Interview der Generationen 

Willkommen und Abschied

Interview der Generationen: Kirchenpräsident Christian Schad (r.) trifft Neu-Pfarrerin Daniela Hegel. Interview führt Maik Weidemann (l.). Foto: lk/Landry.

Schaut voraus auf die digitale Kirche, Kind und Kegel: Daniela Hegel. Foto: lk/Landry.

Blickt zurück auf Erwartungen an den Pfarrberuf, Begegnungen und die erste Corona-Welle: Christian Schad. Foto: lk/Landry.

Herr Schad, Sie gehen jetzt in den Ruhestand. Worauf freuen Sie sich?

Schad: Die Vorstellung, ich könnte mich auf den Ruhestand vorbereiten, ist verfehlt – vor allem wegen Corona. Umso mehr freue ich mich, dass ich ab 1. März eine Nachfolgerin habe: Dorothee Wüst ist die erste Kirchenpräsidentin in der Geschichte unserer Landeskirche. Ich habe alles mir Mögliche getan, um einen guten Übergang zu gewährleisten.

Daniela, du stehst an einem ganz anderen Punkt: Ab März steht das Pfarramt an. Worauf freust du dich?

Hegel: Auf jeden Fall weiterhin auf tolle und neue Menschen, die ich kennenlerne, ganz neue Erfahrungen und eine spannende Zeit. Das Evangelium ist ja nichts, wenn man es nicht zu jemandem bringt und teilt. Die Menschlichkeit ist das Entscheidende am Christentum. Durch das Vikariat habe ich einen kleinen Einblick gehabt und jetzt geht es da halt weiter, auch wenn es noch ein paar Fragezeichen gibt.

Herr Schad, wie geht es Ihnen, wenn Sie das Wort „Ruhe-stand“ hören? Was verbinden Sie damit?

Schad: Irgendwie passen „ruhen“ und „still stehen“ nicht zu mir. Ich habe in meinen Beruf immer für die Sache gebrannt und mich vielseitig engagiert, wenngleich mir dabei meine Fragmenthaftigkeit stets deutlich vor Augen steht. Deswegen wird es bei mir im Wortsinn keinen Ruhe-stand geben. Ich habe zurzeit fast zu viele Angebote, mich ehrenamtlich zu engagieren. Ich war und bin mit Leib und Seele Theologe und Ökumeniker. So sehe ich im Bereich der theologischen Wissenschaft und im ökumenischen Dialog zwei Aufgabenfelder, auf denen ich mich weiterhin betätigen werde. Ansonsten bleibe ich Ordinierter dieser Landeskirche, also beauftragt dazu, den Menschen das Evangelium von Jesus Christus weiterzusagen und die Sakramente zu spenden.

Daniela, du hast 2020 geheiratet. Dein Mann und du erwartet demnächst euer erstes Kind. Gleichzeitig beginnst du mit der Tätigkeit als Pfarrerin. Welche Gedanken hast du dazu?

Hegel: Ein Kind vergrößert natürlich die Herausforderungen. Und gleichzeitig glaube ich, dass mich diese Lebenserfahrung persönlich sehr viel weiterbringen wird. Dadurch kann ich besser verstehen, was Eltern umtreibt. Als „Mama“ werde ich Gelegenheit haben, ins Gespräch mit Menschen zu kommen, die ich als Pfarrerin eher selten sehen würde. Ich weiß aber auch, dass es für Pfarrerskinder manchmal nicht ganz einfach ist – zumal mein Mann ja auch Pfarrer wird. Da müssen wir eine gute Balance finden.

Schad: Dazu fällt mir ein Satz von Martin Luther ein, der zusammen mit der Aufforderung „Sola Scriptura – Allein die Schrift!“ zu hören ist. Er lautet: „Allein die Erfahrung macht den Theologen, die Theologin!“ Das heißt, die existenziellen Erfahrungen, die Sie machen, haben gerade in Verbindung mit dem Evangelium Gewicht. Sie bringen sie als Pfarrerin ein und verleihen Ihrem Reden und Tun Authentizität.

Herr Schad, wie haben Sie die Vereinbarkeit von Ihrem Amt und Beruf mit der Familie erlebt in der Rückschau?

Schad: Nicht immer einfach. Die Situation von Frau Hegel, deren Mann auch Theologe ist, ist mit meiner vergleichbar. Allerdings musste ich zu Beginn meiner Berufstätigkeit, wie viele – ich gehöre der Generation an, die man mit dem wenig freundlichen Wort „Theologenschwemme“ tituliert hat – eine Pfarrstelle mit meiner Frau teilen. Es war die Pfarrstelle Weingarten, damals kombiniert mit dem Seelsorgeauftrag in der Evangelischen Studierendengemeinde Germersheim. Faktisch haben wir damals aber zusammen mit 200 Prozent gearbeitet. Da besteht leicht die Gefahr, im Beruf unterzugehen.

Wenden wir uns einem Thema zu, das Kirche seit dem Frühjahr 2020 stark verändert hat: die Digitalisierung. Daniela, wie hast du den Lockdown letztes Jahr in der Kirche erlebt?

Hegel: Ich bin dankbar, dass ich im Frühjahr 2020 im Gemeindevikariat war. Die üblichen Aufgaben sind durch den Lockdown plötzlich größtenteils weggefallen, aber es haben sich ganz neue gestellt. Es ging darum, sich neue Wege zu überlegen, wie man mit der Gemeinde weitermachen kann. Ich fand es faszinierend, wahrzunehmen, wie viele Menschen aktiv geworden sind, von denen man es im gemeindlichen Alltag nicht mitbekommt. Beim Thema Digitalisierung lag mir die Verbindung von Digitalem und Analogen besonders am Herzen. Wir haben Video-Andachten gestaltet, die Kirchen zum persönlichen Gebet offengelassen, abends die Glocken geläutet und vieles mehr – das war wichtig für viele Menschen. Es haben sich dann auch viele bei uns gemeldet, die sonst nicht in die Kirche gehen. Da sind neue Frömmigkeitsformen deutlich geworden. In Zukunft sollten wir versuchen, Strukturen auch für Menschen zu schaffen, die offensichtlich ein spirituelles Interesse an Glaubensdingen haben, sich aber im Moment nicht aufgehoben bei uns fühlen. Gleichzeitig dürfen wir dabei die Menschen nicht verlieren, die sich wohl fühlen in der Kirche, wie sie sie kennen.

Also sollten wir Kirche auf breitere Füße stellen, um auch Leute mit ihren Bedürfnissen zu erreichen, die wir vorher nicht im Blick hatten?

Schad: Die Corona-Pandemie ruft uns unüberhörbar in Erinnerung, dass wir verletzlich und verwundbar – und unsere Pläne und Sicherheiten endlich und brüchig sind. Mitte März 2020 erreichten uns darüber hinaus die Schreckensbilder aus Norditalien. Der Tod vieler Menschen stand uns unmittelbar vor Augen. Da hatten wir das spontane Verlangen, in unsere Kirchen zu gehen und zu beten, Gemeinschaft, Nähe, Trost zu erfahren. Doch der dann folgende Shutdown schränkte auch bei uns diese Möglichkeit massiv ein. In dieser Situation schossen daraufhin Streaming-Gottesdienste wie Pilze aus dem Boden. Aber auf analogem Weg suchten Kirchengemeinden ebenso den Kontakt zu ihren Gemeindegliedern. Darüber hinaus haben wir auch im kirchlichen Bereich verstärkt die Möglichkeit des Home-Office angeboten und damit für die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie gesorgt. Nach dem Lockdown habe ich in meinem nächsten Umfeld allerdings auch erlebt, wie Menschen aus Freude geweint haben, als sie sich wiedersahen und unmittelbare Gemeinschaft erlebten. Es geht also gar nicht um die Alternative „digital“ oder „analog“. Sondern beides hat sein Recht und wird sich in Zukunft noch sehr viel stärker wechselseitig ergänzen.

Hegel: Ich gehe da sehr viel mit. Und andererseits bin ich nicht ganz so euphorisch, was uns als Kirche in dieser Zeit angeht. Dort wo Kommunikation gelungen ist, wo unerwartete Verbindungen aufgetaucht sind, habe ich das als sehr bereichernd empfunden. Aber ich muss sagen, bei mir bleibt auch ein ganz großer Schmerz stehen über die nicht gelungene Kommunikation, die wir trotz Social Media nicht geschafft haben, nämlich mit Menschen, die sich von Kirche alleingelassen fühlen.

Schad: Ja, da stimme ich Ihnen zu, Frau Hegel. Rückblickend sage auch ich selbstkritisch, dass wir manche nicht erreicht haben, die unseren Beistand und unsere Hilfe dringend gebraucht hätten: beispielsweise junge Familien mit Kindern. Auch hätten wir alte und pflegebedürftige Menschen, die sich oft einsam und isoliert fühlten, früher in den Blick nehmen müssen. Deshalb setze ich mich dafür ein, dass es ein völliges Besuchsverbot in Alten- und Pflegeheimen nicht mehr geben darf. Auch, dass Seelsorgerinnen und Seelsorger – unter Beachtung der Schutzmaßnahmen – Menschen in Krankenhäusern ungehindert besuchen dürfen.

Ihnen beiden ist die Kirche wichtig, die nah bei den Menschen ist. Wie sieht sie in den kommenden Jahren aus?

Hegel: Ich bin sicher, dass sich sehr viel verändern wird. Das Entscheidende: Kirche möchte ich nicht als starre Struktur begreifen, sondern als Ort, wo Christen zusammenkommen, als Gemeinschaft von Glaubenden. Dazu zähle ich – ganz wichtig – auch alle Zweifler und Menschen, die sich in irgendeiner Form verbunden fühlen, aber vielleicht nicht direkt mit der Institution zu tun haben. Ich glaube, dass daraus das Potenzial erwächst, diese Kirche mit Ehrenamtlichen ganz neu zu gestalten. Das soll nicht heißen, dass ich Menschen in ihrer Freizeit noch mehr Arbeit auflasten möchte, sondern im Gegenteil, dass da Potential steckt in vielen Menschen, in der Liebe von Menschen zueinander. Und das ist etwas, was ich in dieser Krise stark bemerke, zum Beispiel, wenn junge Leute anbieten: „Ich möchte für Menschen, die nicht mehr können, einkaufen gehen“. Ich sehe in Zukunft weniger den Kirchturm und den Pfarrer auf der Kanzel, als den Pfarrer mitten unter den Menschen, die miteinander das Leben, die Kirche, ihr Christsein gestalten.

Schad: Hier bin ich etwas verhaltener. Ich denke, wir sind grundsätzlich einer Meinung: Wir werden eine zahlenmäßig kleinere und finanziell ärmere Kirche werden. Das hat zur Folge, dass wir uns von manchen Arbeitsfeldern verabschieden müssen. Und das tut weh und wird zu Trauerprozessen führen. Wir haben in unserer Landeskirche 2019 über 5.800 Kirchenmitglieder verloren. Wenn überhaupt, werden sie aber nur je einzeln zurückzugewinnen sein. Darum sind Strukturen notwendig, die die Zuspitzung auf die authentische Begegnung mit einzelnen Menschen ermöglichen, das heißt konkret: auf die persönliche Begegnung und das Zusammenleben von Christen mit denen, für die der Glaube etwas völlig Fremdes geworden ist. Um Haupt- und Ehrenamtliche dabei aber nicht zu überfordern, müssen wir wechselseitig noch viel stärker kooperieren. Einzelne Gemeinden können Schwerpunkte, ihr besonderes Profil entwickeln. Und sollen sich fragen: Worin sind wir stark? Wen können wir erreichen? Wo können wir Schritte über unsere Grenzen hinaus tun? Aber auch: Was können andere besser? Wo können wir von anderen profitieren?

Herr Schad, wenn Sie sich an den Beginn Ihres Dienstes zurückversetzen, was würden Sie raten?

Schad: Ich habe Frau Hegel im Blick, wenn ich sage: „Sorge auch für Dich selbst!“ Dabei fällt mir das Doppelgebot der Liebe ein, das eigentlich ein Dreifachgebot ist: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt … und deinen Nächsten wie dich selbst.“ Gottes-, Nächsten- und Selbstliebe bilden hier eine Einheit. Selbstsorge hat vor allem auch eine geistliche Dimension. So sind für mich das tägliche Gebet, Luthers Morgen- und Abendsegen, die Lektüre der Losungen und kleine Oasen der Stille Kraftquellen. Darum mein Rat: „Reserviere Dir Zeiten mit Gott als Ressource Deines persönlichen Glaubens.“ Wer barmherzig ist mit sich selbst, wird auch barmherzig sein im Umgang mit anderen.

Daniela, du begegnest deinem älteren Ich. Was würdest du deinem älteren Ich raten?

Hegel: „Pass auf, denn das Wichtigste ist, dass das Feuer nicht aufhört zu brennen!“ Das ist ein wunderbarer Satz vom Sänger Jan Delay. Bewahr’ Dir die Liebe und das Kind in Dir.

 

Zur Person: Christian Schad, geboren 1958 in Ludwigshafen, Theologiestudium in Bethel, Tübingen und Bonn von 1976 bis 1983, Gemeindepfarrer und Studierendenseelsorger in Weingarten und Germersheim, Referent im Landeskirchenrat, Dozent am Predigerseminar, zehn Jahre Oberkirchenrat und zwölf Jahre Kirchenpräsident.

Zur Person: Daniela Hegel, geboren 1986 in Ludwigshafen, Theologiestudium in Heidelberg und Erlangen, Beginn des Vikariats 2018 in Schifferstadt und Speyer, ab März 2021 Pfarrerin in Erlenbach-Morlautern.

 

Das Interview und die Fotos wurden im November 2020 aufgenommen. Maik Weidemann hat das Interview geführt, Katja Edelmann die Redaktion übernommen.