Hausandacht 

„Ist das nichts, ist das wirklich nichts?“

Rainer Huy. Foto: lk.

Mitte Februar 2021. Stau am mittleren Ring. Na toll! War doch früher nicht so! Wieso ist da auf einmal Stau? Das nervt und ich frag´ mich, ob das jetzt so bleibt. „Das fängt Mitte, vielleicht Ende 50 an“, sagt mein Schulfreund, den ich an Fastnacht treffe. Er ist Arzt. Er muss es ja wissen. „Was sich bislang gut verteilte, bleibt jetzt in der Mitte hängen. Ab einem gewissen Alter kriegt auch ein Sportler einen Bauchansatz.“ „Aha“, sag´ ich, „Stau am mittleren Ring – und der bleibt. Dauerstau sozusagen.“ Aber vielleicht irrt sich mein Schulfreund ja. Ärzte wissen nicht alles. Wäre das nicht ein Vorhaben für die Fastenzeit? 7 Wochen ohne – Fasten gegen den Stau am mittleren Ring.

Bei den einen ist es der Bauch, die Figur, andere nehmen sich anderes vor: Kein Fleisch, kein Nikotin und keinen Alkohol. Sie lassen das Auto in der Garage stehen, schauen weniger Netflix oder sie ziehen sich aus den sozialen Netzwerken zurück.

Ich sage es frei heraus, ich hab´s nicht so mit den Fastenaktionen. Sie überzeugen mich nicht und kommen mir etwas beliebig vor. Und bei „Aktionen“ gehen bei mir sowieso ganz schnell die roten Lampen an. Ist das Fasten nicht eher eine Haltung als eine Aktion? Wahrscheinlich spielt auch meine protestantische Prägung mit hinein, gut möglich! Hat nicht schon Martin Luther die Fastenpraxis kritisiert? Fasten, um Gott zu gefallen? Fasten, um irgendetwas zu beweisen? Um Gottes willen!

Nein, ich will den Fastenmenschen nicht die gute Absicht absprechen. Ich bin überzeugt, viele sind mit Ernst bei der Sache. Ich frage mich halt nur, ob das immer in die richtige Richtung läuft und um was es eigentlich geht.

Ich könnte es mir in diesem Jahr leicht machen. Ich könnte sagen, die Einschränkungen eines Lockdowns müssten doch schon reichen. Das Statement einer katholischen Theologieprofessorin – sie muss es ja wissen! – bestätigt diese Annahme: „Infolge der Coronakrise erlebt derzeit die gesamte Welt eine auferlegte Fastenzeit.“ Na also, noch Fragen?

Verzicht, Verzicht, Verzicht!

Sich treffen – Wenn überhaupt, nur in bestimmten Konstellationen. Welche Verordnung gilt gerade?

Reisen – Wohin denn und vor allem, wo übernachten?

Feiern – Ist das schön! Geht aber nur in kleiner Besetzung, da fehlt was.

Shoppen – Na ja, wenigstens die Buchläden sind wieder offen.

Sich ungezwungen begegnen – Nur mit Maske bitte! „Lächelst du gerade?“

Berühren – Händedruck, Umarmung. Nur bei Personen des engeren familiären Umfelds erlaubt. Erweiterung des Personenkreises bei vorliegendem Test oder mit Impfung möglich.

Unfassbar! Verzicht. Was wir als Kinder schon hörten: Erst im Mangel erfährst du, was wirklich wichtig ist, was du wirklich brauchst. Gar nichts ist selbstverständlich. Das Leben ist Geschenk.

Erinnerungen an Kindheit und Jugendjahre: Mittwochs und freitags besondere Mahlzeiten. An den anderen Tagen wird´s wieder besser. Ich freue mich drauf! An Karfreitag kein Radio, zumindest keine Pop- und Rockmusik. Fernsehen, wenn überhaupt, sehr eingeschränkt. Dunkel und trist dieser Tag. Er nimmt kein Ende. Warten auf Licht, Wärme, Ostern. Ich kann es kaum erwarten. Wann ist es endlich soweit?! Und dann an Ostern Sommerkleidung rausgeholt, keinen Tag früher, auch wenn es vorher schon richtig warme Tage gab. Aber dann! Mit dem knallgelben T-Shirt raus auf die Straße. (Schreckliche Farbe! Ich liebte es.)

Überhaupt das Frühjahr. Warten auf die Sonne, auf das andere Licht, die langen Tage, die Wärme auf der Haut. Das gelbe Reclamheftchen, Eichendorffs „Taugenichts“ aus dem Regal gezogen und damit aufs Dach des Gartenhäuschens, Lektüre unter freiem Himmel. In Gedanken reisen.

Mein Schulfreund, der Arzt, hört Udo Jürgens. Ich nicht! Da muss ich durch! Diese Lieder, diese Melodien, immer noch in meinem Kopf, Texte nur bruchstückhaft, ich schaue nach: „Ist das nichts, dass du traurig warst und wieder lachst? Ist das nichts, dass du sagen kannst, ich esse mich satt? Ist das nichts, dass du helfen kannst, wenn du nur willst? Ist das nichts, dass du Sehnsucht nach irgendwas fühlst. Dass du lebst, wo die Freiheit ein Wort nicht nur ist. Ist das nichts, ist das wirklich nichts?“

„Ist das nichts?“

Essen und Trinken, Wohnung, Haus, materielle Absicherung, Menschen an unserer Seite, Familie, Freundinnen und Freunde, Gemeinschaft, ein Lachen, ein Blick, ein freundliches Wort, Liebe empfangen und Liebe verschenken, Freiheit ...

Fasten ist ein uralter Brauch, in der Bibel, in der Geschichte unserer Kirche bis zum heutigen Tag. Auch in anderen Religionen wird gefastet. Hintergründe und Beweggründe sind sehr verschieden, die Praxis sowieso. Ich finde Deutungen aus der Frühzeit der Kirche. In ihnen werden auch die freudvollen Aspekte herausgestellt. Fasten als Sehnsucht oder Reise. Da heißt es, das Fasten macht die Menschen den Engeln gleich und führt sie zum Paradies zurück. Ist das nicht ein schönes Bild? Sehnsucht nach dem Paradies. Momentan wollen viele Menschen nach Mallorca reisen. Was suchen sie dort?

Fasten ist eine Lebenshaltung. Wir vergewissern uns, wer wir sind, von was wir leben, auf was es ankommt im Leben, was nötig ist, was wir wirklich brauchen und was nicht. Weniger ist manchmal mehr.

Fasten – Ballast abwerfen, mit leichtem Gepäck reisen – Gott begegnen.