Andacht 

Innehalten und solidarisch und verantwortlich handeln

Macht Mut in schwierigen Zeiten: Kirchenpräsident Christian Schad. Foto: lk/Rothermel.

Liebe Schwestern und Brüder!

Als ob wir mit dem Drama der Geflüchteten an der türkisch-griechischen Grenze nicht genug hätten, um uns zu besinnen auf das, was dran ist und uns wahrhaftig gut zu Gesicht stünde! Dazu jetzt – mit immer rasanterer Vehemenz – die Corona-Krise. Kein Tag, ohne neue Nachrichten zu diesem Virus. Kaum noch eine Begegnung irgendwo, beim Einkaufen, im Bus oder im Zug, zu Hause oder am Arbeitsplatz, in der nicht etwas mitschwingt von unserer Sorge und Angst:

„Ist da womöglich ein Virenträger dabei?“

„Oder bin ich am Ende selber betroffen?“

Wie paradox! Wir suchen in diesen Zeiten Nähe und Geborgenheit – und müssen doch voneinander Abstand halten. Wir sehnen uns nach Gemeinschaft und Kommunikation – und müssen uns doch vereinzeln. Wie gut, dass wir große Kirchenräume haben, die beides ermöglichen: Distanz und Nähe, sodass wir gemeinsam beten und singen, gemeinsam auf Gottes Wort hören können.

Freilich, die Zahl derer, die demonstrativ den Kopf in den Sand stecken, sie bröckelt: immerhin! Auf der anderen Seite nehmen Panik und Hysterie zu. Auch die Stigmatisierung von Menschen durch Menschen, die die Ursache allen Übels schon längst ausgemacht haben: Wer beispielsweise aus Asien kommt, ist schnell unter Verdacht und wird nicht selten zur Zielscheibe von Anfeindungen.

Liebe Schwestern und Brüder, so heftig wir von der Corona-Welle betroffen sind, es ist ein Geschehen, das unter den Bedingungen einer globalen Welt nicht auszuschließen ist. Auch erinnert uns die gegenwärtige Ohnmacht dem Virus gegenüber nicht nur an die Zerbrechlichkeit menschlichen Lebens, sondern sie erschüttert auch unsere zum Teil ungebrochene Wissenschaftsgläubigkeit: als ob der Mensch alles könne, alles im Griff habe …

Kein Zweifel: Die gegenwärtige Krise mit ihren gravierenden Folgen, sie fordert uns heraus: den Forschergeist, um einen geeigneten Impfstoff zu entwickeln; den verantwortlichen Umgang untereinander; auch den zeitweiligen Verzicht – oder die Änderung im Blick auf gewohnte Veranstaltungsformate: im Sport, in der Kultur und eben auch bei uns, in der Kirche – bis hin zu unseren Gottesdiensten.

Es gehört für mich zur Christenpflicht, vorbeugende Maßnahmen zu ergreifen, um das Infektionsrisiko auch in Gottesdiensten und kirchlichen Veranstaltungen zu minimieren. Für Gottesdienste – und selbst für Trauerfeiern auf dem Friedhof oder in unseren Kirchen gilt zurzeit die Obergrenze von 75 Personen.

Schweren Herzens plädiere ich auch dafür, die jetzt anstehenden Konfirmationen und Jubelkonfirmationen auf einen späteren Zeitpunkt zu verlegen; ebenso Konzerte abzusagen und die Gruppen und Kreise in unseren Gemeinden vorerst ruhen zu lassen. Auch – für eine gewisse Zeit – auf die Feier des Heiligen Abendmahls zu verzichten; ist doch nach evangelischem Verständnis auch ein reiner Wortgottesdienst ein vollwertiger Gottesdienst. Durch diese und ähnliche Schutzmaßnahmen wollen wir Sorge tragen dafür, dass insbesondere für die Älteren und Schwächeren unter uns, auch für Menschen mit Vorerkrankungen, weiterhin die medizinischen Ressourcen in ausreichendem Maß zur Verfügung stehen. Diese Personen sind darauf angewiesen, dass ihnen unser Gesundheitssystem helfen kann.

„Suchet der Stadt Bestes… und betet für sie“ (Jeremia 29, 7), so lautet die Aufforderung des Propheten Jeremia an seine Glaubensgeschwister in Babylon. Indem wir Verantwortung für uns und unsere Nächsten übernehmen – und zugleich die in unser Gebet einschließen, die erkrankt sind bzw. sich zu Hause oder in den Kliniken um Erkrankte kümmern – Ärztinnen und Ärzte, Pflegende und Angehörige – nehmen wir unseren Auftrag als Christinnen und Christen ernst.

Früher, liebe Gemeinde, haben Menschen unter ihre Pläne oft zwei Buchstaben gesetzt: C und J. Diese Abkürzung steht für: „Conditio Jacobea“, zu deutsch: „die Bedingung des Jakobus“. Das „C und J“ geht auf den biblischen Brief des Jakobus zurück. Der Briefschreiber warnt vor allzu großer Selbstsicherheit und schließt ab mit der Bemerkung: „So Gott will und wir leben“ (Jakobus 4, 15). Das also ist die „Conditio Jacobea“: eine demütige Einschränkung, eine Relativierung unserer Pläne und Entwürfe.

Heute ist dieses „C und J“ weithin aus der Mode gekommen. Alles schien planbar und funktionierte danach – zumindest war das vor Corona so. Jetzt sieht die Welt anders aus! Sie konfrontiert uns mit unserer eigenen Machtlosigkeit und fordert uns auf, inne zu halten – und dann solidarisch und verantwortlich zu handeln.

So haben Verzicht und Vorsicht auch etwas Gutes. Sie sind: praktizierte Nächstenliebe! Und vielleicht bietet ja die – durch Absagen gewonnene – Zeit die Chance, Menschen, die etwa unter Quarantäne stehen, zu begleiten, für sie einzukaufen, mit ihnen zu telefonieren, ihnen Nähe und Zuwendung zuteil werden zu lassen. Zeit, bewusster und intensiver zu leben …

So begleite Gott uns und alle Menschen in diesen Tagen mit seinem Schutz und mit seinem Segen. Er schenke uns die Gabe, achtsam füreinander zu sein – und vor allem die Kraft, Gewohntes zu lassen, loszulassen, zu vermeiden, um gerade durch solchen Verzicht Menschen zu schützen und ihnen zu helfen.

Suchen wir der Stadt Bestes – und beten wir für sie. Amen.