Reformationsjubiläum: Festabend mit dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts 

„Das Gewissen ist der Kern der menschlichen Persönlichkeit“

Speyer (lk). In einer demokratischen Gesellschaft ist nicht Gehorsam, sondern Verantwortung für die Gemeinschaft die vorrangige Pflicht des Einzelnen. Nur so kann nach den Worten des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, auch die im Grundgesetz verankerte Gewissensfreiheit gewährleistet werden. In seinem Vortrag zum Thema „Wie weit reichen die Grundrechte in Gewissenskonflikten?“ hob Voßkuhle die gesellschaftliche Herausforderung hervor, immer wieder in einen ethisch-moralischen Diskurs zu treten und sich so aktiv an einem offenen, demokratischen Willensbildungsprozess zu beteiligen. „Wir müssen auf Fehlentwicklungen und moralische Defizite in unserem Gemeinwesen aufmerksam machen“, appellierte Voßkuhle, der anlässlich des Reformationsjubiläums am Dienstag in Speyer den Festvortrag hielt.

Der von Harald Asel vom Rundfunk Berlin-Brandenburg moderierte Festabend war Abschluss und Höhepunkt des Europäischen Stationenweges und der Speyerer Kirchen-Kultur-Tage im Jubiläumsjahr „500 Jahre Reformation“. Mit einem Gebet und einer Schweigeminute zu Beginn des Festabends gedachte Kirchenpräsident Christian Schad der Opfer von Terror und Gewalt weltweit – und besonders der Christen in Ägypten, über die am Palmsonntag schreckliches Leid gekommen sei. Das Recht auf Religions- und Gewissensfreiheit könne nicht schwerer verletzt werden als dadurch, dass Menschen während ihrer Religionsausübung Gewalt angetan werde.

In Anlehnung an Luthers die Welt verändernden Satz auf dem Reichstag 1521 in Worms „Hier stehe ich. Ich kann nicht anders“ stellte der Präsident des Bundesverfassungsgerichts das Gewissen als „Kern der menschlichen Persönlichkeit“ heraus. Es gebe nicht nur „richtig“ oder „falsch“, sagte Voßkuhle. Vielmehr werde bei jeder Gewissensentscheidung der Einzelne „auf sich zurückgeworfen. Er muss die Verantwortung übernehmen“. Die Verfassung schütze nicht das Gewissen als solches. Geschützt würden vielmehr Gewissensbildung und Gewissensentscheidung. Damit ziele das Grundgesetz nicht nur auf die Freiheit des Gewissens, sondern auch auf die Unverletzlichkeit dieser Freiheit – „unantastbar“ und „unbedingt“.

Indes gebe es auch Grenzen der Gewissenfreiheit, sagte der Jurist und führte als Beispiel etwa die Schulpflicht („staatlicher Erziehungsauftrag“) an. „Freiheit als rechtliche Freiheit kann niemals schrankenlos und absolut sein, denn sie muss mit der Freiheit anderer zusammen bestehen. Keine Verfassungsnorm darf so verstanden werden, dass sie die Verfassung selbst zu umgehen erlaubt“, stellte Deutschlands oberster Richter klar.

Für die inhaltliche Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen bedarf es nach den Worten von Kirchenpräsident Christian Schad nicht nur des staatlichen Gewaltmonopols, sondern auch eines gesellschaftlichen Klimas der Toleranz. Gerade jetzt, wo in der Türkei, aber auch in einigen europäischen Ländern die Gewaltenteilung auf dem Spiel stehe, sei es „ein Gebot der Stunde, die Unverletzlichkeit der Freiheits- und Menschenrechte immer wieder neu bewusst zu machen“, sagte Schad in seiner Begrüßung der rund dreihundert Gäste aus Politik, Kirche und Gesellschaft. Für diese demokratischen Werte hätten die Evangelischen Kirchen am Oberrhein auch im Vorfeld der in diesem Jahr stattfindenden Wahlen geworben. „Wir suchen den Dialog, gerade auch mit anderen Religionen und Weltanschauungen – und tragen zu einer Kultur der Aufmerksamkeit bei.“

Wahre Toleranz finde ihre Grenze aber an der Intoleranz, führte der Kirchenpräsident aus. „Gerade als Religionsgemeinschaften müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass die Inanspruchnahme von Religionsfreiheit Konsequenzen hat: Sie setzt das Ja zu den Bedingungen der Freiheit voraus.“ Der Europäische Stationenweg, der durch 68 Orte und 19 Länder führt, erinnere an diese gemeinsamen Überzeugungen und evangelischen Grundorientierungen, sagte der Kirchenpräsident.

Der Festabend wurde musikalisch umrahmt von der Evangelischen Jugendkantorei der Pfalz unter der Leitung von Landeskirchenmusikdirektor Jochen Steuerwald.

Hintergrund: Mit Luthers 95 Thesen 1517 in Wittenberg begann die Reformationsbewegung, die bis heute Kirche und Welt prägt. Im Jahr 2017 wird national, international und ökumenisch nach den reformatorischen Impulsen für Kirche und Gesellschaft gefragt. Glaubensfreiheit und Gewissensfreiheit bilden dabei den Schwerpunkt seitens der Evangelischen Kirche der Pfalz. Die Kirchen-Kultur-Tage waren einer der Höhepunkte zahlreicher Veranstaltungen in diesem Festjahr. Das Geschichtenmobil, ein Truck, der durch 19 europäische Länder und 68 Orte reist, soll im Mai in Wittenberg eintreffen.

Speyer prägte weltweit den Begriff „Protestanten“. Dank der Protestation von sechs Fürsten und 14 freien Reichsstädten auf dem Reichstag von 1529 erhielt die Stadt von der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) den Titel „Reformationsstadt Europas“. Im Reformationsjahr kooperiert die Landeskirche mit der Staatlichen Geschäftsstelle Luther 2017 und ist Partner des Reformationsvereins e.V., der Kampagne r2017, die von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und dem Deutschen Evangelischen Kirchentag getragen wird.