Die humanitäre Katastrophe in Gaza verschärft sich, während Israel seine Militäroffensive fortsetzt. Das Forum Friedensethik in Baden und auch kritische Stimmen in der Pfalz fordern die Kirchen zu klareren Worten gegen das Unrecht auf. Inmitten von Gewalt und Polarisierung stellen sich viele die gleiche Frage: Wie kann ich konkret helfen? Oberkirchenrat Markus Jäckle spricht im Interview über Glaubwürdigkeit, Verantwortung – und über Möglichkeiten, Hoffnung sichtbar zu machen.
Herr Jäckle, muss sich die pfälzische Kirche offensiver positionieren zum Konflikt in Gaza, um glaubwürdig zu bleiben? Was könnte sie damit erreichen?
Oberkirchenrat Markus Jäckle: Die Situation in Gaza ist eine einzige Katastrophe und der Konflikt in seiner Dimension komplex und extrem polarisierend. Insofern bin ich mir nicht sicher, ob offensiv ein Wort ist, das diesem Kontext angemessen ist. Die Hamas hat immer noch viele Geiseln in ihrer Gewalt und die israelische Armee dringt unerbittlich immer weiter vor im Bestreben, die Hamas zu zerstören, ohne Rücksicht auf die palästinensische Bevölkerung. Diese Situation polarisiert die Menschen zunehmend. Da ist die Solidarität mit Israel auf der einen Seite und auf der anderen Seite das Unverständnis über die große militärische Gewalt bis hin zu Antisemitismus.
Wie grenzt sich die Kirche in dieser Situation ab?
Zu unserer Position gehört, dass wir unmissverständlich zwischen der Terrororganisation Hamas und der palästinensischen Zivilbevölkerung unterscheiden, die in großer Not lebt. Wir verurteilen den Terror der Hamas, die erklärtermaßen die Vernichtung Israels anstrebt, ebenso wie eine militärische Offensive des Staates Israel, die das humanitäre Völkerrecht verletzt und Zivilisten trifft. Maßstab sind für uns Menschenwürde, Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht. Daran hängt unsere Glaubwürdigkeit.
Wir verlangen die Freilassung der Geiseln, ein Ende der Offensive in Gaza-Stadt und humanitäre Hilfe. Diese Katastrophe muss enden. Und in dieser Haltung sind wir nicht allein.
Auch in Israel gehen Hunderttausende auf die Straße, um gegen den Krieg zu protestieren. Ehemalige hochrangige Politikerinnen und Politiker des Landes drängen öffentlich auf einen Waffenstillstand. Weltweit unterzeichnen Juden in großer Zahl Aufrufe für ein Ende der Gewalt. Die meisten Staaten der internationalen Gemeinschaft fordern ein sofortiges Ende der israelischen Militäroffensive – doch die Regierung Netanjahu marschiert unbeirrt weiter in die entgegengesetzte Richtung.
Welche Rolle spielt dabei die besondere Beziehung zu jüdischen Gemeinden in Deutschland?
Unsere Glaubwürdigkeit als Evangelische Kirche der Pfalz hängt aber auch an der besonderen Verantwortung gegenüber Israel und unseren jüdischen Geschwistern hierzulande.
Mit den jüdischen Gemeinden in Rheinland-Pfalz, Saarland und auch darüber hinaus verbinden uns vielfältig gewachsene Beziehung. In den Gesprächen spüren wir die wachsende Angst vor Antisemitismus und der Bedrohung des Staates Israel.
Nicht selten wird dadurch Vertrauen beschädigt. Insofern erleben auch wir als Kirche die aktuelle Situation als Gratwanderung, die aber nicht dazu führen darf, die eigenen Werte zu verraten. Unsere Stimme ist wichtig, um all jenen in Politik und Gesellschaft den Rücken zu stärken, die für dieselben Werte eintreten. Es geht darum, klare Worte zu finden, die nicht polarisieren, aber diese Werte deutlich zum Ausdruck bringen.
Verstehen Sie die Forderung, dass sich die Kirche deutlicher äußern soll?
Ich verstehe die Forderung, sich für die palästinensische Bevölkerung einzusetzen. Das Leid, die humanitäre Katastrophe muss ein Ende haben. Und es muss eine Lösung gefunden werden.
Ich verstehe ebenso die Forderung der Juden nach Solidarität und einer sicheren Heimat. Das Leid der Geiseln muss ein Ende haben. Und dem wachsenden Antisemitismus müssen wir klar entgegentreten.
Wie lässt sich das in Einklang bringen?
Beide Forderungen können nicht getrennt voneinander beantwortet werden.
Angesichts der anhaltenden Gewalt, der weiterhin verschleppten und gefangenen israelischen Geiseln, der massiven Zerstörungen in Gaza und des existenziellen Leids ist der Ruf nach einer klaren, wertegebundenen kirchlichen Stimme nachvollziehbar. Diese muss sich aber so äußern, dass sie jüdisches Leben nicht delegitimiert und nicht in antisemitische Muster kippt.
Geschieht den Menschen in Gaza offenkundiges Unrecht, wie das Forum Friedensethik es formuliert?
Die humanitäre Katastrophe in Gaza hat ein unvorstellbares Ausmaß erreicht. Zehntausende Menschen sind bereits durch die Kämpfe zwischen israelischer Armee und Hamas getötet worden, Gaza eine Trümmerwüste. Durch die Blockade der israelischen Regierung erreichen viel zu wenig Hilfsgüter die Region. Ernährungssituation und medizinische Versorgung sind katastrophal. Der Beschuss von Krankenhäusern, Angriffe auf humanitäre Helfer verstoßen gegen Völkerrecht. Nahezu die gesamte Bevölkerung ist auf der Flucht ohne echten Ausweg. Die israelische Armee rückt in Gaza-Stadt unter Ankündigung von beispielloser Gewalt mit schweren Bombardierungen vor. Dieses Vorgehen ist nicht mehr zu rechtfertigen. Unzählige Menschen, die unter Hunger, Krankheit, Gewalt und Vertreibung leiden und nicht mehr wissen wohin. Es sind Frauen, Kinder und alte Menschen, die am meisten leiden. Das Leid der Zivilbevölkerung in Gaza ist offenkundig und unerträglich. Wenn ihnen nicht geholfen wird, ist das Unrecht.
Ich sage dies aber nicht, ohne auf den bestialischen Angriff der Hamas am 7. Oktober vor zwei Jahren zu erinnern. Die Bilder der vielen getöteten und geschundenen Menschen, der Geiseln und ihrer verzweifelten Angehörigen habe ich noch gut vor Augen. Der Überfall war ein Terrorakt der schlimmsten Art. Die bis heute andauernde Geiselnahme, der Missbrauch von Menschen und zivilen Einrichtungen als Schutzschilde verstoßen gegen Menschen- und Völkerrecht und sind ebenfalls nicht zu rechtfertigen.
Es braucht Differenzierungen. Auch wenn es schwerfällt, es darf nicht immerzu darum gehen, die Dinge gegeneinander aufzurechnen. Das führt nur dazu, dass sich die Gewaltspirale weiterdreht. Die muss aber, soll es Frieden geben, durchbrochen werden.
Die Situation in Israel und Palästina polarisiert die Menschen: Der Solidarität mit Israel auch aus der deutschen Geschichte heraus steht Unverständnis im Hinblick auf die anhaltende militärische Gewalt gegenüber. Wo sehen Sie die Rolle der Kirche in diesem Spannungsfeld?
Es herrscht Krieg, zwischen Israel und der Hamas, und jede Seite hat ihr eigenes Narrativ. Wie jeder Krieg hat auch dieser seine eigene Propaganda, die polarisiert. In dieser Gemengelage haben wir den Kompass verloren: Humanität, Menschenwürde, Völkerrecht, Menschenrechte. Diese sehen weder auf Nation noch Religion, die gerade in diesem Konflikt (wie in vielen anderen) eine wesentliche Rolle spielen. Wir Deutsche tragen dies als äußerst schmerzhafte Erfahrung in unserer Geschichte mit uns. Die daraus resultierende Erkenntnis heißt: nie wieder. Und das gilt für alle. Völkerrecht, Menschenrechte und Menschenwürde gelten unabhängig von Nation und Religion. Das kann uns mit jenen Juden und mit jenen Palästinensern verbinden, die diese Werte teilen und nach Lösungen suchen - ohne Gewalt. Genauso wie man nicht von „den Deutschen“ im Allgemeinen sprechen kann, darf man auch Israelis oder Palästinenser nicht pauschalieren. Es gibt auf beiden Seiten Menschen, die diese Werte leben – und solche, die dies nicht tun.
Welche konkrete Aufgabe sehen Sie für die Kirche?
Als Kirche können wir also mit dazu beitragen, dass der Kompass des Humanen nicht aus dem Blickfeld gerät. Die Anteilnahme am Leid der Menschen gehört zum Grundauftrag der Kirche. In jedem Fall und für jede Seite. Dazu gehört auch Trauer und Klage Raum zu geben, auch Angst und Wut - aber ohne Feindbilder. Und ganz wesentlich: Hoffnung geben. Auch wenn es nicht möglich scheint. Eine Kirche, die keine Hoffnung mehr hat, ist nicht nur nicht mehr glaubwürdig, sondern sie ist auch keine Kirche mehr. Kirche ist immer Anwalt der Menschen, Anwalt der Menschlichkeit und Anwalt der Hoffnung.
Dies findet seinen Niederschlag in Seelsorge, Diakonie und Katastrophenhilfe, sowie in der kirchlichen Bildungs- und Friedensarbeit gegen Antisemitismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und für Frieden und Gerechtigkeit.
In der Verfassung der pfälzischen Landeskirche heißt es gleich zu Beginn, die Kirche „sucht die Versöhnung mit dem jüdischen Volk und tritt jeder Form von Judenfeindschaft entgegen.“
Der jahrtausendealte Antisemitismus gipfelte in der Massenvernichtung der Juden, in der Shoah. Dieser Massenmord wurde in Deutschland von unseren Vorfahren erdacht, geplant und ausgeführt.
Diese historische Verantwortung Deutschlands macht den Schutz jüdischen Lebens zu einer nicht verhandelbaren Priorität. Auch für die Ev. Kirche der Pfalz. Ihr besonderer Auftrag zur Versöhnung mit dem jüdischen Volk und dem Entgegentreten gegen jede Form von Antisemitismus hat Verfassungsrang.
Eine im Jahr 2016 veröffentlichte Untersuchung der Geschichte der pfälzischen Landeskirche in der Zeit des Nationalsozialismus trägt den Titel „Protestanten ohne Protest“. Sie zeigt auf, wie schnell und vorbehaltlos sich die pfälzische Landeskirche dem Nationalsozialismus angeschlossen hat. Damit hat sie sich mitschuldig gemacht am Holocaust, an der Vernichtung der Juden. Darüber hinaus hat es auch in der Kirche schon seit Jahrhunderten immer wieder starke antisemitische Bestrebungen gegeben, die auch noch theologisch begründet wurden. Aus diesem Grund hat sie eine besondere Verantwortung zur Versöhnung mit dem jüdischen Volk. Dazu gehört auch jeder Form von Antisemitismus unbedingt entgegenzutreten.
Wie geht die Kirche mit den Polarisierungen in den eigenen Gemeinden um? Belastet der Konflikt auch das Verhältnis zu den jüdischen Gemeinden vor Ort?
Natürlich belastet der Israel-Palästina-Konflikt mit all seinen Polarisierungen auch die Menschen innerhalb unserer Gemeinden und das Verhältnis zu der jüdischen Gemeinde. Die Bilder von Gewalt, Zerstörung und zivilen Opfern lösen Trauer, Empörung, Angst und vor allem Hilflosigkeit aus. Niemand sieht derzeit eine Lösung des Konfliktes, wie soll man als Christ oder Christin damit umgehen, wie auf Hoffnung und Versöhnung setzen?
Die unterschiedlichen Perspektiven schließen einander mehr und mehr aus. Bedingungslose Solidarität mit Israel gegen scharfe Kritik an der Politik Netanjahus, große Anteilnahme an der Not des palästinensischen Volkes gegen die Terrorgefahr durch die Hamas.
Wo sehen Sie hier die Verantwortung der Kirche heute?
In dieser Situation kann unsere Rolle als Kirche nicht darin bestehen, zu weiteren Polarisierungen beizutragen, sondern den Blick auf die zu richten, die leiden. Auf beiden Seiten.
Deshalb sehen wir unsere Aufgabe auch und gerade darin, nicht nur öffentlich zu unseren Werten zu stehen, sondern sie auch gemeinsam mit all denen zu stärken, die sowohl in Israel wie in Palästina am Frieden arbeiten. In diesen Netzwerken lebt die Idee des Friedens. Und immer wieder erleben wir, wie wichtig unser Interesse und unsere Anteilnahme für all die sind, die vor Ort um Frieden ringen.
Sehen Sie einen Ausweg aus dem politischen Konflikt?
Je länger der Krieg im Nahen Osten dauert, desto schwieriger wird es für alle. Ein erster Schritt wäre eine sofortige Beendigung der Militäroffensive in Gaza und ein Waffenstillstand. Damit verbunden sind dringend nötige Hilfslieferungen in das Kriegsgebiet. Das erfordert die verzweifelte Lage der Bevölkerung in Gaza wie auch der dort gefangen gehaltenen Geiseln. Das fordern auch viele Menschen in Israel, auch Militärs.
Eine bleibende Besetzung des Gazagebietes wird den Konflikt nicht beenden, sondern neue Gewalt erzeugen. Die Voraussetzung für einen tragfähigen Frieden bedingt auf Seiten der Hamas deren Entwaffnung und die Anerkennung des Existenzrechtes des Staates Israels, auf Seiten Israels die Beendigung der militärischen Gewalt sowie der aggressiven Siedlungspolitik.
Könnte dieser Ausweg in einer Zweistaatenlösung liegen?
Solange die Hamas ihre Politik auf dem Rücken der Bevölkerung austrägt und gleichzeitig eine aggressive Siedlungspolitik für weitere Eskalationen sorgt, wird kein Frieden möglich sein. Aber auch abgesehen davon ist ein integriertes Zusammenleben von Juden und Palästinensern in einem gemeinsamen Staat vermutlich kaum denkbar. Dazu sind das Leid und der erfahrene Schmerz in diesem eskalierenden Konflikt auf beiden Seiten zu tief.
Auf diesem Hintergrund ist eine Zweistaatenlösung trotz aller Hindernisse am meisten plausibel und realistisch: Israel als sicherer, mehrheitlich jüdischer Staat neben einem lebensfähigen, souveränen Staat Palästina – mit internationalen Garantien, entmilitarisierten Zonen und Sicherheitsarrangements unter verbindlicher Achtung von Menschenrechten und Minderheitenschutz. Die Hamas wie auch extremistische Siedlerbewegungen torpedieren diesen Weg, mit ihnen ist kein Frieden zu machen. Aber viele Menschen beiderseits sind des Konflikts einfach müde.
Und was können wir hier konkret tun? Welche Möglichkeit gibt es zu helfen?
Wir können weiter hoffen und beten und so die Menschen dort nicht aufgeben. Wer mit Spenden die dortige diakonische Arbeit, medizinische und humanitäre Hilfe oder auch das zivilgesellschaftliche Engagement gegen Gewalt unterstützt, hilft dieser Hoffnung und diesen Gebeten sichtbare und erfahrbare Gestalt zu geben. Und wer rassistischen oder antisemitischen Äußerungen widerspricht, verteidigt die Menschenwürde.
Konkret hinweisen möchte ich auf die Möglichkeit, für das Ahli Arab Hospital in Gaza zu spenden.
Es ist mir ein Anliegen als Präsidiumsmitglied der Evangelischen Mission in Solidarität (EMS) darauf hinzuweisen. Die EMS ist eine ökumenische Gemeinschaft von weltweit 25 Kirchen und fünf Missionsgesellschaften, die sich für eine Welt einsetzt, in der Menschen ein selbstbestimmtes und würdevolles Leben führen können.
Spendenkonto:
Kontoinhaber: Evangelische Kirche der Pfalz
IBAN: DE96350601901011675006
BIC: GENODED1DKD
oder
Verwendungszweck: 0-697-5351, Krankenhaus Ahli Arab
Hintergrund: Das Ahli Arab Hospital in Gaza-Stadt
Das Ahli Arab Hospital in Gaza-Stadt gehört zur Episcopal Church in Jerusalem and the Middle East und ist eine der wenigen verbliebenen medizinischen Einrichtungen in der Region. Mit rund 80 Betten, täglichen Behandlungen von etwa 700 Patientinnen und Patienten sowie 25 bis 30 Operationen spielt es eine zentrale Rolle für die Gesundheitsversorgung. Besonders für die Zivilbevölkerung ist das Krankenhaus oftmals die einzige Anlaufstelle.
Trotz wiederholter Angriffe – zuletzt mit vielen Toten und Verletzten im Oktober 2023 – hält das Krankenhaus den Betrieb aufrecht. Es versorgt Verwundete, bietet ambulante Hilfe und leistet wichtige Basisversorgung inmitten der humanitären Katastrophe. Auch deutsche Landeskirchen, darunter die Evangelische Kirche im Rheinland, unterstützen die Arbeit finanziell. Die Evangelische Mission in Solidarität (EMS) ruft dazu auf, das Krankenhaus zu fördern und hat Angriffe auf die Einrichtung öffentlich verurteilt.
Das Ahli Arab Hospital steht somit für die Verbindung aus medizinischer Hilfe, kirchlicher Solidarität und dem Einsatz für die Würde von Menschen, die unter Krieg und Zerstörung leiden.
Einen aktuellen Bericht zur Situation im Ahli Arab Hospital in Gaza lesen Sie hier: https://www.osservatoreromano.va/de/news/2025-09/ted-035/aerzte-entscheiden-ueber-leben-und-tod.html