Am 5. März 1925 gegründet, befasst sich der Verein für Pfälzische Kirchengeschichte mit Ereignissen, die in der Vergangenheit liegen. Doch die Erforschung früherer Jahrhunderte dient stets auch der Klärung gegenwärtiger Fragen und der Orientierung an Entwicklungen, die in die Zukunft weisen. Die Geschichte der pfälzischen Kirchenlandschaft enthält nicht nur überliefertes Wissen, sondern bietet Material für Fragen der kirchlichen Praxis und für das kirchliche Selbstverständnis – dies auch und gerade in Zeiten der Krisen, wie der Vorsitzende des Vereins, Ulrich Wien, im Gespräch unterstreicht.
Vor diesem Hintergrund werde die Forschung nicht so wahrgenommen, wie sie es verdiene: „Das interessiert häufig nicht wirklich.“ Wien bedauert dies, weil die Themen, die der Verein in Publikationen oder auf Tagungen behandelt, in Fachkreisen mitunter weltweite Resonanz auslösten. In Kooperation mit dem rheinland-pfälzischen Geschichtslehrerverband unternimmt der Verein auch Versuche, historische Themen im Schulunterricht zu implementieren. Der Forschungsradius reicht bis ins Spätmittelalter zurück, die Zeit der Kirchenbauten als erste sichtbare Zeichen des nach der Reformation rasch wachsenden Protestantismus. Und er endet in der jüngsten Vergangenheit, etwa mit Studien über die kirchlichen Beziehungen im geteilten Deutschland.
Die besondere Charakteristik der pfälzischen Kirchengeschichte macht Ulrich Wien an der kleinteiligen, ländlichen Struktur der Region fest, weswegen grenzüberschreitende Kontakte und Partnerschaften auf internationaler Ebene wichtig seien. So habe die Landeskirche 1956 mit protestantischen Kirchen Großbritanniens eine Abendmahlsgemeinschaft durchgesetzt, die im deutschen Kontext als Pionierleistung in der ökumenischen Annäherung gelte. Deutsch-französische Versöhnung in der Zwischenkriegszeit mit der „Evangelisch-christlichen Einheit“ um Jules Rambaud, aber auch in den Nachkriegsjahren wurde, wie Ulrich Wien aufzeigt, von pfälzischen Geistlichen vorangetrieben. Diese seien davon motiviert gewesen, die christliche Botschaft in die Tat umzusetzen und Vorurteile und Hass zu überwinden.
Einen Akzent der Vereinsarbeit sieht der Vorsitzende in der Erforschung des Verhältnisses der Kirche zu staatlichem Handeln – in totalitären Zeiten und in der Demokratie. Der Blick aus der Gegenwart erfordere eine differenzierte Bewertung von Vorgängen beispielsweise im Nationalsozialismus, die nur angemessen beurteilt werden könnten, wenn die Hintergründe der jeweiligen Haltungen und Handlungen nicht unzulässig verkürzt würden. Dies mahnt Wien etwa mit Blick auf den ehemaligen Kirchenpräsidenten Hans Stempel an, der inhaftierte Kriegsverbrecher seelsorglich begleitet, sich für diese eingesetzt hatte und deswegen aktuell in der Kritik steht.
Das Bild der Kirche im Dritten Reich ist denn auch ambivalent. Nicht alle Protestanten waren Mitläufer, nicht alle Widerständler, vieles blieb uneindeutig. Nicht wenige änderten ihre Haltung: Hitler-Anhänger wurden Mitglieder der Bekennenden Kirche, wie Pfarrer Heinz Wilhelmy (Dekanat Pirmasens). Als dieser seines Amtes enthoben wurde, legte das Presbyterium Widerspruch ein. Letzten Endes wurden nach Kriegsende nur zwei Pfälzer Pfarrer zwangspensioniert. Noch immer werden über die Zeit des Nationalsozialismus Studien verfasst. Derzeit lässt Ulrich Wien Pfarramtsberichte auswerten, die Auskünfte über die Situation der evangelischen Jugendarbeit in Konkurrenz zur Hitlerjugend geben können.
Stets lässt sich in der Kirchengeschichte beobachten, wie Menschen die jeweils auftretenden Krisen bewältigt haben. Als das landesherrliche Kirchenregiment 1918 aufgegeben wurde, büßte die Kirche ihren staatlichen Rückhalt ein – doch sie gewann dafür Unabhängigkeit. Wenn Normen und Gewohnheiten sich nicht mehr als tragfähig erweisen, müssen neue Wege gefunden werden. „Die Gemeinschaft der Glaubenden vor Ort, die gemeinsam beten und einander helfen, ist das, was die Krise überwunden hat“, sagt Wien. Aufklärung und Wissen über historische Vorgänge könnten in der aktuellen Krise helfen, Zukunftsperspektiven zu eröffnen. Aus der Geschichte weiß Wien: „Eine mündige Gemeinde kommt aus der Krise – eine entmündigte Gemeinde geht unter.“ Die Relevanz einer solchen mündigen Kirche für jede Gesellschaft verhehlt der Theologe nicht; sie sei deswegen stets auch eine „Gefahr für jede autoritäre Herrschaft oder Diktatur“. Geboten bleibe indes die Orientierung an den christlichen Kernbotschaften des Evangeliums.
In der Frage, wie Menschen in früheren Zeiten die Zukunft gewonnen haben, stößt Wien auf das Moment der christlichen Gemeinschaft. Möge diese weltweit auch in unterschiedliche Gruppierungen geteilt sein, so eine sie doch der gemeinsame Glaube an die Botschaft des Evangeliums. Die Bereitschaft, voneinander zu lernen, eigene Positionen zu überprüfen und zu korrigieren, bleibt aus Sicht des Historikers für die Zukunft der christlichen Kirche entscheidend.
Von Uwe Rauschelbach
Dieser Artikel ist zuerst im Evangelischen Gemeindeblatt für die Pfalz erschienen.