Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges am 8. Mai 1945 verhielt sich die pfälzische Landes­kirche überwiegend pragmatisch: Die Entnazifizierung verlief milde, im Vordergrund stand das Bemühen, dem Hunger und der Armut in der Bevölkerung zu begegnen.

Von Uwe Rauschelbach

SPEYER. 1945 hätte die „Stunde der Kirche“ sein können. Doch aus heutiger Sicht hat die pfälzische Landeskirche – und wohl nicht nur sie – die Chance vertan, das Ende des Krieges vor 80 Jahren für einen Neuanfang, für „eine wirkliche Reform an Haupt und Gliedern“, zu nutzen, wie der Homburger Kirchenhistoriker und frühere Pfarrer Bernhard H. Bonkhoff in seiner „Geschichte der Vereinigten Protestantisch-Evangelisch-Christlichen Kirche der Pfalz“ schreibt. Was die Haltung eines großen Teils ihrer Pfarrerschaft im Dritten Reich anbelangt, so hat die pfälzische Landeskirche heute offenbar wenig Grund zum Feiern. Welche Faktoren tragen zu dieser kritischen Sichtweise bei?

Bonkhoff macht vor allem den Verlauf der Entnazifizierung durch die interne kirchliche Spruchkammer dafür verantwortlich, dass es zu ­einer mehr oder weniger reibungslosen Eingliederung früherer Nazi-Anhänger in die sich neu for­mierende Gesellschaft kam. Die nationalsozialistische Vergangenheit eines nicht unerheblichen Teils der pfälzischen Pfarrerschaft – mehr als 100 Personen und damit rund 20 Prozent der evangelischen Geistlichen waren NSDAP-Mitglieder, die Hälfte aller pfälzischen Pfarrer gehörte zu den Deutschen Christen – hatte nach dem Krieg offenbar nicht dazu geführt, dass das politische Engagement der Kirchenvertreter in angemessener Weise aufgearbeitet wurde. Insgesamt wird die Haltung der Amtskirche während der NS-Herrschaft nicht etwa als theologisch wehrhaft, sondern als überwiegend politisch angepasst interpretiert.

Ein Grund für die wenig konsequente Entnazifizierung war offenbar auch, dass viele Kirchengemeinden ohne leitende Hirten waren und eine durchgreifende Reform aus personellen Gründen vermieden werden sollte. Das Ergebnis der Spruchkammer für die evangelische Pfarrerschaft lautete am Ende: fünf Entlassungen ohne Pension, zwei Entlassungen mit Pension, drei Suspendierungen, sechs Pensionierungen, elf Versetzungen, fünf Sus­pendierungen von einem leitenden Amt, 15 Zurückversetzungen, 44 Geldbußen. Doch selbst diese Urteile wurden noch abgemildert: Fünf der pensionierten Pfarrer wurden laut Kirchenhistoriker Bonkhoff reaktiviert, für 38 Pfarrer gab es eine Amnestie, einer der Entlassenen wurde wieder in den kirchlichen Dienst aufgenommen.

Für Thomas Fandel, Archivdirektor im Bistum Speyer, ergibt sich mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges das Bild einer zerstörten Kirche, sowohl was die zahlreichen zerbombten und ausgebrannten Gebäude betrifft als auch die Institution als solche. Insofern sind die Ruinen auch als sichtbare Zeichen einer inneren Verwüstung zu betrachten: Von 407 Kirchen im Gebiet der pfälzischen Landeskirche wurden mehr als 220 Gebäude durch Bomben erheblich oder nahezu völlig zerstört. Gegenüber der Tatsache, dass die meisten evangelischen Theologen mit leichten finanziellen Verlusten oder geringen Karriereeinbußen davonkamen, sind die Forderungen der Vertreter der Bekennenden Kirche nach einer strukturellen Neuordnung der Kirche verhallt. Selbst die Schulderklärung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) von 1945 fand in der pfälzischen Landeskirche keine Zustimmung.

Die Kirchlich-Theologische Arbeitsgemeinschaft (KTA), eine Vereinigung von Theologen und theologisch interessierten Gemeindemitgliedern, äußerte ebenso die Erwartung einer grundlegenden Erneuerung der Kirche. Vor diesem Hintergrund drohte, wie die ehemalige Archivdirektorin der pfälzischen Landeskirche, Gabriele Stüber, schreibt, ein „Kirchenkampf“ zwischen den Befürwortern einer radikalen Erneuerung und denen, die für ein möglichst geräuschloses Weiter-so plädierten. Ziel der Entnazifizierung durch die kirch­liche Spruchkammer sollte es sein, nach christlichen Kriterien und nicht unter Racheaspekten zu urteilen. Allerdings habe es auch darum gehen sollen, die im Nationalsozialismus beschädigte Glaubwürdigkeit der Kirche wiederherzustellen. Im Jahr der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 habe mehr als die Hälfte der aktiven evangelischen Pfarrer in der Landeskirche den Deutschen Christen angehört. 1939 habe ein Drittel der Geistlichen zur Pfarrbruderschaft gezählt.

Der frühere landeskirchliche Archivdirektor Wolfgang Eger zieht in ­einem Beitrag über die Situation der Landeskirche seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein ebenso nüchternes Fazit: Für 542.052 Kirchenmitglieder waren 289 Pfarr­stellen ausgewiesen. 46 Pfarrer und Vikare waren gefallen, 54 befanden sich in Kriegsgefangenschaft, 20 wurden als vermisst gemeldet. 148 Pfarrhäuser waren zerstört beziehungsweise beschädigt. Nach einer Erklärung des Pfälzischen Pfarrervereins war zwar der Wunsch nach einer geistlichen Erneuerung der innerlich wie äußerlich schwer heimgesuchten Kirche lebendig; doch viele Pfarrer galten als „körperlich überanstrengt, überarbeitet, ­leidend, geistig ermüdet, seelisch und geistig erschöpft, vom Kriege zermürbt“, was besagt, dass für eine kirchliche Reformation offenbar auch die geistigen und körper­lichen Kräfte fehlten.

Mögen die Hauptamtlichen der ­Landeskirche laut Gabriele Stüber auch im Entnazifizierungsprozess geschont worden sein, so habe eine Mehrzahl der Pfarrer sich „weniger als Mitläufer, geschweige denn als Täter, wohl aber als Opfer eines verbrecherischen Systems“ gesehen. Zugleich habe die Kirche ihrer Rolle „in der besonderen materiellen und seelischen Notlage“ der Nachkriegszeit gerecht werden müssen. Stüber kommt zu dem Schluss: „Die Bestrebungen der KTA für einen radikalen Neuanfang waren nicht mehrheitsfähig.“ Die Aufarbeitung der Rolle der Kirche im Nationalsozialismus wurde damit nachfolgenden Generationen überlassen.

Zur Nachkriegsgeschichte der pfälzischen Landeskirche gehört aber auch der beherzte Einsatz gegen Hunger, Wohnungsnot, Flüchtlings­elend und den Mangel an Lebensnotwendigem. So rief die Landes­kirche ihre Gemeinden 1946 zur Mitarbeit im Hilfswerk auf, das im August 1945 als „Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland“ gegründet worden war. Anfang 1946 führte dies zur Errichtung eines „Sozialamtes der Pfälzischen Landeskirche“, das mit dem Hilfswerk der EKD verbunden war. Das Sozialamt wiederum veranlasste den Aufbau eines Evangelischen Gemeindedienstes. Demnach war das diakonische Handeln der Landeskirchen mit größerer Notwendigkeit versehen als die Aufarbeitung kirchlicher Positionen gegenüber dem NS-Regime. So entstanden nach 1946 insgesamt 20 Gemeindedienste, die mit Fragen der Vermisstenfürsorge und der Suchdienste sowie mit Speisungen und Sammlungen befasst waren. Überwiegend von Frauen geleistet, trug diese Arbeit im Bereich der Landeskirche weitere Früchte in Form eines Kindererholungswerkes. Auch führten die diversen Sammlungen zu hohen Spenden. Zudem gab es zahlreiche Auslandsspenden, vor allem aus Amerika. Diese Hilfen hatten, wie Gabriele Stüber betont, auch eine psychologische Bedeutung, galten sie doch als Zeichen der Versöhnung. In einem Aufruf des Hilfswerks für eine Geldhaussammlung in der Oster­woche 1947 wird die Lage drastisch geschildert: „Unbeschreibliche Not wälzt sich heute durch unser Volk. Unsagbar großes Elend starrt uns in allen Straßen und Gassen, in Häusern und auf Bahnhöfen an. Auch unsere pfälzische Heimat ist mit hineingerissen in diesen Strudel von Not und Elend. Ausgebombte Städte, katastrophale Wohnungsnot, unterernährte Jugend, hoffnungslose Zukunft.“

Das Hilfswerk nahm in den Folgejahren immer größere Dimensionen an. Aus ihm ging 1968 das Diakonische Werk hervor. Stets ging es dabei auch um das evangelische Profil, das in Abgrenzung zu weltlichen sozialen Diensten geschärft werden sollte. Und so zeigte sich im diakonischen Handeln ein starker Wille zum Neuanfang. Das muss auch Bernhard H. Bonkhoff anerkennen: „Es vollzog sich eine Neu­belebung der pfälzischen Kirche, die so niemand für möglich gehalten hatte.“

Schließlich wurde am 10. August 1945 das „Speyerer Schuldbekenntnis“ veröffentlicht, in dem es reu­mütig heißt: „Wir haben vielfach geschwiegen, wo wir hätten reden müssen, wir haben zugeschaut, wo wir hätten handeln müssen! Aber alles Erkennen und Bekennen der Schuld hat nur dann einen Wert, wenn daraus neues Leben geboren wird. So wollen wir denn zusehen, was zu tun ist, damit mit dem weiteren Absinken auf geistigem und geistlichem Gebiete gesteuert und ein Neuanfang gemacht werde.“

Dieser Artikel ist zuerst im Evangelischen Gemeindeblatt für die Pfalz erschienen.

Hunger und Armut waren nach Kriegsende weit verbreitet: Kinderspeisung in Maxdorf. Foto: ZASP Abt. 102.01. Nr. 309