Der ARD-Fernsehgottesdienst am Buß- und Bettag kommt aus Pirmasens. Thema ist sexualisierte Gewalt in Kirchen, mit dabei ist Kirchenpräsidentin Dorothee Wüst. Im Interview mit Florian Riesterer spricht sie über Lernerfahrungen von Kirche und richtiges Hinhören. (Foto: Melanie Hubach)

Frau Wüst, wie kam es, dass das Thema sexualisierte Gewalt in der Kirche Thema wird im Fernsehgottesdienst zum Buß- und Bettag?

Dorothee Wüst: Wir sind im Frühjahr gefragt worden, ob wir den Fernsehgottesdienst zum Buß- und Bettag übernehmen können. Da war die Forum-Studie erst ein paar Wochen alt. Beim ersten Nachdenken sind wir deshalb relativ schnell auf das Thema gekommen. Es geht eigentlich gar nicht anders, als an diesem Tag das eigene Scheitern vor Gott zu bringen. Gerade an diesem Tag dürfen wir uns als Kirche nicht vor diesem Thema drücken. Vom SWR gesetzt war das Thema nicht.
 
Wie ist das Team an das Thema herangegangen?

Es war von Anfang an klar, dass wir keinen Gottesdienst planen können ohne Mit­wirkung von betroffenen Personen. Ohne ihre Geschichten und ihre Perspektiven würde sonst alles schief. Zu Recht hat uns die ForuM-Studie ins Stammbuch geschrieben, dass Betroffene ein Recht auf Gehör haben. Dann kann es nicht sein, dass wieder nur wir als Kirche reden. Dass sich mit Matthias Schwarz und Nancy Janz zwei Personen aus der Betroffenenvertretung innerhalb des Beteiligungsforums Sexualisierte Gewalt in der EKD mit einbringen, erleben wir als sehr wertvoll.
 
Was für Impulse kamen?

Zunächst einmal haben sie uns ihre Geschichten und ihre Sicht der Dinge geschenkt. Und dann haben wir zum Beispiel begriffen, dass für ganz viele Betroffene das Vaterunser nicht geht, wo es heißt, „wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“. Es wird auch keine Fürbitten geben im Gottesdienst, sondern „Brauchbitten“. Denn es kann und soll kein Gottesdienst sein für alle von Missbrauch Betroffenen – nur für jene, die daran teilnehmen und sich darauf einlassen möchten. Wir haben viele Betroffene, die nicht „mitgemeint“ sein wollen durch Fürbitten, die das als übergriffig empfinden würden.
 
Warum?

Für jeden ist der Weg ein anderer. Das war und ist eine mühsame Lernerfahrung für uns als Kirche: Nicht wir diktieren die Wege. Nicht wir wissen, was der beste Weg ist. Wir müssen aushalten, dass Betroffene den für sie jeweils richtigen Weg gehen wollen, und müssen ihnen das auch ermöglichen. Manche wollen ihre Geschichte erzählen, andere nicht, manche suchen nach wie vor Nähe zur Kirche, andere wollen nie wieder etwas mit uns zu tun haben.
 
Wie ist der Gottesdienst aufgebaut?

Wir erzählen aus verschiedenen Perspektiven von Verletzlichkeit und Scheitern. Wir versuchen ernst zu nehmen, was zerbrochen ist. Und wir müssen aushalten, das alles nicht am Ende zu einem heilen Bild flicken zu wollen, nur damit alle am Ende mit einem guten Gefühl nach Hause gehen. Das wäre auch dem Buß- und Bettag nicht angemessen. Am Ende wird jeder schildern, wo für ihn der Himmel ein Stück weit aufreißt. Aber es kann kein Gottesdienst sein, wo am Ende wieder alles gut ist. Als Vertreterin der Amtskirche spüre ich bei diesem Thema ja sehr deutlich, wie sehr gerade wir auf Gnade angewiesen sind.
 
Hat sich Ihr Blick als Theologin auf Begriffe wie Schuld oder Vergebung geändert im Zuge der Diskussion um sexualisierte Gewalt?

Definitiv. Es geht um die ganz großen Begriffe, aber wir müssen auch grundsätzlich etwa über sensible Sprache im Gottesdienst nachdenken. Ein Gottesdienst am Buß- und Bettag zum Thema „sexualisierte Gewalt“ ist wichtig. Aber wir sollten das Thema nicht auf einen Gottesdienst im Jahr delegieren, sondern uns hier immer wieder überprüfen. In jeder Hinsicht. In unseren Gottesdiensten sitzen Menschen mit Gewalterfahrungen und traumatischem Hintergrund. Das gilt für das Thema „Missbrauch“, aber beispielsweise auch für das Thema „Rassismus“. Wie nimmt jemand einen Gottesdienst wahr, der Mi­grant ist? Wo haben wir mit unserer Sprache Menschen im Blick, die mitten unter uns sind und eben nicht woanders? Nehmen wir diese Erfahrungen und Perspektiven ernst oder tragen wir nur immer weiter unsere Perspektive ein und repetieren Sprachmuster, die manchen unter uns ins Herz schneiden?
 
Zum „Vaterunser“, dessen Worte Betroffenen teilweise schwerfallen, muss ich nachfragen: Ist Vergebung aber nicht zentraler Bestandteil des christlichen Glaubens?

Den Anspruch, vergeben zu sollen, kann ich nicht von außen herantragen als Anspruch. Natürlich kann ich mit jemandem auf Augenhöhe sprechen, kann Vergebung für heilsam halten. Aber ob eine Person vergeben kann, ist ihre eigene Entscheidung. Wenn Vergebung nur gewollt ist, damit Dinge schnell vom Tisch kommen und andere Bedürfnisse erfüllt werden als die betroffener Personen, dann ist das eine Perversion dessen, worum es bei Vergebung aus christlicher Sicht geht. Viel zu oft wurde Vergebung zum Beispiel eingefordert, ohne dass auch nur die geringste Reue von Tätern spürbar war oder dass es um Konsequenzen für die Täter ging. Auch der Begriff „Ver­gebung“ ist missbraucht worden. Es geht also nicht darum, einen zen­tralen Bestandteil christlichen Glaubens in die Tonne zu treten, sondern ihn theologisch ernst zu nehmen.
 
Sie sind Kirchenpräsidentin. Wie sehr sind Sie bei aller Rücksichtnahme versucht, die eigene Institution zu schützen?

Die ForuM-Studie hat uns Kirchen sensibel gemacht für genau dieses Thema. Der Schutz der eigenen Institution ist ein Reflex. Das mag etwas durchaus Menschliches sein, ist vor diesem Hintergrund aber toxisch. Deshalb muss die ständige Prüffrage lauten: Geht es mir bei meinem Verhalten um die betroffene Person oder um die Institution? Mir hilft dieser Gedanke: Ich will nicht die Institution schützen, ich will das schützen, was mir wichtig ist. Und mir ist die Kirche wichtig. Mir ist ein Ort wichtig, an dem Menschen Heimat und  Sicherheit erfahren können. Diesen Ort und damit die Insti­tution schütze ich am besten dadurch, dass ich Menschen schütze. Dazu gehört dann aber, sich dem Thema „sexualisierte Gewalt“ ernsthaft zu stellen und auf allen Ebenen glaubwürdig für eine andere Haltung und diesen Schutz einzutreten.
 
Welche Rolle spielt dieser Gottesdienst dabei?

Innerhalb des Gottesdienstes bemühen wir uns, glaubwürdig zu sein. Aber der Gottesdienst dient nicht der Glaubwürdigkeit der Amtskirche. Um Gottes willen nicht. Der Gottesdienst soll ein aufrichtiges Angebot sein, sich aus verschiedenen Perspektiven auf das Thema einzulassen. Gerade auch für die, die es leidvoll betrifft. Deshalb ist nach dem Gottesdienst auch eine Hotline geschaltet. Damit Menschen, die sich angesprochen fühlen, nicht ins Leere laufen, sondern eine Kontaktmöglichkeit haben. Und ich hoffe sehr, dass wir im Gottesdienst einen Ton treffen, der Menschen dazu ermutigt.
 
Wie nehmen Sie als Sprecherin der kirchlichen Beauftragten im Beteiligungsforum der EKD das Thema aktuell wahr?

In allen Landeskirchen ist nach meiner Wahrnehmung angekommen, dass es kein Thema ist wie viele andere, dass wir dieses Thema nie zu den Akten legen können. Aber ich sehe auch, dass die Relevanz des Themas innerhalb der Landeskirchen längst nicht alle beschäftigt und genau die Mechanismen greifen, die ausweislich der ForuM-Studie tatbegünstigend sind: Es findet woanders statt, es betrifft uns nicht, bei uns gibt es das nicht. Natürlich ist es gut, wenn Landes­kirchen ihre Fachstellen personell aufstocken und für eine Profes­sionalisierung sorgen. Aber das Thema lässt sich nicht delegieren. Gut geschulte Personen an Schaltstellen sind wichtig. Aber ­damit sind nicht alle anderen raus. Die Erarbeitung von Schutzkonzepten in allen Bereichen unserer Landeskirche ist von enormer Bedeutung. Hier sind zum Beispiel die Presbyterien gefragt. Und natürlich baue ich auch auf die Arbeit der Unabhängigen Regionalen Aufarbeitungskommissionen, die in unserem Fall gemeinsam mit der badischen Landeskirche im nächsten Frühjahr an den Start gehen soll.
 
Haben Sie das Gefühl, die Bemühungen der Kirche werden gesehen?

Ob Fortschritte im Umgang mit dem Thema in der Öffentlichkeit gesehen werden, könnte zweitrangig sein. Es geht nicht darum, als Institution Kirche Punkte zu machen. Sondern es geht um betroffene Personen, die das Gefühl brauchen, dass sich etwas tut, was für sie gut ist. Auch wenn das in sehr kleinen Schritten passiert.

 

Der Fernsehgottesdienst zum Buß- und Bettag ist am Mittwoch, 20. November um 10 Uhr in der ARD zu sehen. Die Hotline für betroffene Personen ist geschaltet unter 0800-2255530.

Informationen zum Thema und weitere Anlaufstellen für betroffene Personen finden sich auf unserer Website.

 

Kirchenpräsidentin Dorothee Wüst. Foto: Melanie Hubach

Kirchenpräsidentin Dorothee Wüst. Foto: Melanie Hubach