Ein Beitrag von Kirchenpräsidentin Dorothee Wüst

Der Reformationstag ist kein Museumstag. Kirchenpräsidentin Dorothee Wüst blickt auf die Ereignisse vor mehr als 500 Jahren, sieht Luthers Licht und Schatten und fragt, was uns heute wirklich trägt. Sie lädt ein, Reformation als Aufbruch zu leben: frei im Gewissen, verständlich im Reden von Gott, barmherzig im Handeln - für eine Kirche, die Fehler bekennt, Hoffnung teilt und Verantwortung übernimmt.

Der 31. Oktober 1517 ist mehr als ein Datum im Geschichtsbuch. Er erzählt von Menschen, die der Stimme ihres Gewissens mehr trauten als den mächtigen Strukturen ihrer Zeit. Sie suchten Gott nicht in Glanz und Sicherheit, sondern in der Freiheit des Glaubens. Was damals begann, war keine Museumsbewegung, sondern ein Aufbruch, der Kirche und Gesellschaft veränderte - im Hören auf das Evangelium.

Und doch: Wer interessiert sich heute noch für einen Thesenanschlag vor über fünfhundert Jahren? So vieles treibt uns um: der Verlust an Vertrauen, sinkende Mitgliederzahlen, der bröckelnde gesellschaftliche Zusammenhalt. Manches wirkt weit weg von dem, was Martin Luther beschäftigt hat. Aber die eigentliche Frage bleibt erstaunlich nah: Gibt es in dieser Erinnerung etwas, das uns in Gegenwart und Zukunft trägt?

Ich meine: ja - wenn wir Reformation nicht nostalgisch betrachten, sondern als Einladung, neu zu hören und neu zu beginnen. Wir leben in einer Zeit der Verunsicherung, aber auch der Sehnsucht: nach Sinn, nach Hoffnung, nach einem Grund unter den Füßen. Reformation heute heißt: nicht krampfhaft festhalten, sondern mutig aufbrechen. Uns bewegen lassen - von Gottes Wort, vom Leid der Menschen, von der Hoffnung auf Gerechtigkeit und Frieden.

Dabei hilft der ehrliche Blick auf Luther selbst. Er ist eine ambivalente Figur. Ich habe Respekt vor dem Mut eines kleinen Mönchs, der sein Gewissen über die Angst stellte und der Macht von Kaiser und Papst die Stirn bot. Aber zu ihm gehören auch dunkle Seiten: seine Hetzschriften gegen Jüdinnen und Juden, seine Haltung im Bauernkrieg. Luther ist kein Säulenheiliger. Gerade deshalb taugt der Reformationstag nicht für heroische Verklärung - sondern für die richtigen Fragen.

Eine dieser Fragen hat Luther zugespitzt: „Woran du dein Herz hängst und worauf du dich eigentlich verlässt, das ist dein Gott.“ Ich höre das als Anfrage an mich, an uns: Woran hänge ich mein Herz in diesen Zeiten? Was ist mir so wichtig, dass ich mich mit Leib und Seele dafür einsetze? Luther hat seine Antwort gefunden: Er vertraute dem Gott, der Menschen liebt bis in den Tod, Leben verheißt und Frieden und Gerechtigkeit will. Aus diesem Glauben gewann er Freiheit und Zivilcourage.

Hier liegt das Antwortpotential der Reformation auch auf die Fragen von heute:

Gnade statt Druck.

Niemand muss sich Gottes Ja verdienen. Wer das glaubt, atmet auf und wird frei, andere zu lieben und Verantwortung zu übernehmen.

Freiheit des Gewissens.

Sie macht mutig, auch gegen den Strom zu stehen.

Mündigkeit statt Zuschauersport.

Kirche lebt, wo viele mitdenken und mitgestalten: Frauen und Männer, Junge und Alte, Haupt- und Ehrenamtliche.

Verständliche Sprache.

„Sola scriptura“ (die Schrift allein) bedeutet heute auch, die gute Nachricht so zu übersetzen, dass sie Herzen erreicht: in Stadt und Dorf, im Gottesdienst und im Netz.

Zur Wahrheit gehört ebenso: Wir lernen auch aus Fehlern. Als Kirche benennen wir Schuld, arbeiten auf und suchen Wege der Heilung. Dazu gehört, antijüdische Tendenzen  zu erkennen und uns heute sichtbar an die Seite jüdischer Gemeinden zu stellen. Dazu gehören auch die dunklen Schuld-Schatten im Zusammenhang sexualisierter Gewalt in Kirche und Diakonie, die uns in die Verantwortung nehmen. Glaubwürdig

 Glaubwürdig werden wir auch durch die Bereitschaft, uns korrigieren zu lassen. Auch das ist Reformation.

Was bedeutet das konkret für uns in der Pfalz? Wir schaffen Räume, in denen Fragen willkommen sind. Fragen über Gott und die Welt, über Zweifel, Sehnsucht und Lebensmut. Wir bleiben diakonisch präsent, hören hin, wo Not ist, und handeln gemeinsam mit Partnern aus Sozialarbeit, Bildung und Kultur. Wir feiern Gottesdienste mit Profil: verlässlich und nahbar, klassisch und experimentell, analog und digital. Wir teilen Verantwortung und stärken das Ehrenamt, weil „Priestertum aller Glaubenden“ kein frommer Slogan ist, sondern eine Haltung. Und wir zeigen klare Kante: für Menschenwürde und Demokratie, für Frieden, gegen Antisemitismus und jede Form von Menschenfeindlichkeit. So wächst Vertrauen. Schritt für Schritt.

Der Reformationstag ist deshalb kein nostalgischer Gedenktag.  Er fragt uns jetzt und heute: Woran hängst du dein Herz? Was ist dir wirklich wichtig? Wofür willst du dich einsetzen? In den Antworten liegt Reformation, liegt Veränderung. Zum Guten. Mit Gott. Gemeinsam. Für Menschen.

Dorothee Wüst, Kirchenpräsidentin der Evangelischen Kirche der Pfalz

Kirchenpräsidentin Dorothee Wüst. Foto: lk/Archiv/Landry