Kindervesperkirche, Suppenküche, Kitas, Beratungsstellen oder Besuchsdienste: Diakonisches Handeln kann viele Formen annehmen und gehört „als Dimension kirchlichen Lebens auch in jede Kirchengemeinde vor Ort“, sagt Dorothee Wüst im Interview. Florian Riesterer sprach mit der Kirchenpräsidentin anlässlich der immer im Dezember stattfindenden Kindervesperkirche in Ludwigshafen.
Wie erleben Sie die Kindervesperkirche?
Das ist ein großartiger Moment jedes Jahr, wenn die Kinder voller Spannung in die Jugendkirche kommen. Mich beeindruckt, wenn dann alle den Kindern applaudieren und so voller Freude sind. Das ist ein Angebot, das die Realität von Kindern und Familien sieht, aber nicht mit Stigmatisierung einhergeht, weil es ja Teil des Schulprogramms ist.
Würden Sie sagen Kinderarmut ist unterschätzt in Deutschland?
Es wird deutlich unterschätzt, weil die meisten Menschen damit jemanden verbinden, der nichts mehr zu essen hat, keine Kleider am Leib und kein Dach über dem Kopf. Das ist absolute Armut. Und die ist in Deutschland eher selten. Aber wir haben eine hohe Quote an relativer Armut: Menschen können aus finanziellen Gründen nicht wirklich am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Wenn kein Geld da ist, um sich den Schulranzen leisten zu können. Wenn eine Familie im Sommer dem Kind keinen Schwimmbadbesuch ermöglichen kann oder der Beitrag für den Sportverein nicht mehr drin ist. Das ist kein „nice to have“, sondern ein „must be“. Eines muss uns klar sein: In den ersten zehn, 15 Lebensjahren eines Menschen werden viele Weichen gestellt. Wir müssen Dinge so ändern, dass die Gesellschaft von morgen eine Zukunft hat. Kein Kind kann etwas dafür, in welche Umstände es hineingeboren wird.
Diakonisches Handeln von Kirche findet noch an deutlich mehr Orten statt. Was ist entscheidend?
Ich finde es wichtig, dass diakonisches Engagement die betroffenen Personen mit beteiligt. In der eigenen Situation unsichtbar zu sein, ist ein Fluch unserer Gesellschaft. Deshalb sind Angebote segensreich, die versuchen, Menschen das Gefühl zu geben: Ich sehe dich in einer Bedarfslage, aber eben auch mit dem, was du einzubringen hast. Letztlich geht es bei allem diakonischen Handeln darum, Menschen zu empowern, mit ihrer eigenen Lebenssituation besser umgehen zu können.
Fallen ihnen Beispiele ein?
Beispielsweise die Suppenküche in Ludwigshafen oder das „Mittendrin“ in Pirmasens als sozialraumorientiertes Projekt. Wenn wir auf das Thema Einsamkeit schauen, die kirchlichen Besuchsdienste. Was man auch nicht vergessen darf, sind die ungefähr 240 Kindertagesstätten auf dem Gebiet der Landeskirche.
Inwiefern?
Die Mitarbeiterinnen vor Ort haben einen Blick für die Familien. Und wenn die Kooperation gut läuft mit der Kirchengemeinde vor Ort, entstehen da auch Angebote, die Menschen unterstützen. Ich war lange Jahre zuständig für 19 Kindertagesstätten im Stadtgebiet Kaiserslautern und je nach dem Sozialraum hat sich auch die Arbeit entsprechend orientiert. Die Kindertagesstätte Turnerstraße auf dem Kotten hatte beispielsweise eine Stadtteilbücherei, die für Kinder im ganzen Stadtteil offen war.
Die Kommunen klagen über leere Kassen. Muss diakonisches Engagement hier eine Lücke füllen, die der Staat hinterlässt?
Ich erlebe diese Gratwanderung. Diakonisches Handeln gehört von jeher zum christlichen Selbstverständnis. Diakonische Einrichtungen sind aber zum Beispiel gerade im 19. Jahrhundert zur Blüte gekommen, in einer Zeit als in der Industriegesellschaft die Armut galoppiert ist und der Staat sich nicht zuständig gefühlt hat. Die Diakonie hat diese Lücke erkannt und versucht, durch Barmherzigkeitshandeln zu füllen.
Mittlerweile haben wir einen Sozialstaat…
Ja, und der Staat sieht sich selbst nach wie vor in der Verantwortung, dafür zu sorgen, dass alle seine Bürgerinnen und Bürger gut leben können, die Chance auf ein gelingendes Leben haben. Die Diakonie als selbstverständlichen Lückenbüßer für all das zu sehen, was der Staat nicht leisten kann, ist keine nachhaltige und tragfähige Lösung.
Und doch darf ich mich der Hilfe nicht entziehen, wenn ich Christ bin, oder?
Das Ganze hat mehrere Ebenen. Wenn ich einen Menschen bei Minusgraden auf der Straße liegen sehe, der offensichtlich in Not ist, dann kann ich mich nicht hinstellen und sagen: Nur weil die in Mainz oder Berlin nichts tun, lass ich den liegen. Wenn Menschen in Not sind, steht jeder von uns in der Verantwortung, zu helfen. Stufe zwei sind beispielhafte Angebote, etwa wenn Ehrenamtliche sich bereiterklären, beim Thema Integration Behördengänge zu begleiten oder Sprachkurse anbieten. Es darf aber nicht sein und ist auch nicht möglich, dass Kirche den Bedarf völlig abdeckt, der staatlicherseits nicht gedeckt werden kann. Unsere Erfahrungen aus der diakonischen Arbeit bringen wir deshalb in politische Gespräche auf Spitzenebene ein, das ist die dritte Stufe.
Die Kirche als Taktgeber sozusagen?
Der Barmherzige Samariter ist eine schöne Geschichte, die jeder kennt, bis dorthin, wo der Samariter dem Mann am Wegesrand hilft. Dann aber liest keiner mehr weiter. Der Samariter bringt den Verletzten ja noch dorthin, wo ihm weitergeholfen wird. Und dann geht er. Damit ist auch so etwas angesprochen wie Gesamtverantwortung von uns allen. Füreinander da zu sein und aufeinander zu achten, ist unser aller Aufgabe als Gesellschaft.
Es gibt mehr Gemeinwesendiakonieprojekte als noch vor ein paar Jahren. Verändert sich hier der Blick auf das, was Kirche leisten sollte?
Ich hoffe es. Wir wollen das in Zukunft auch noch sichtbarer machen. Wir haben ja die diakonischen Beratungsangebote zum Beispiel in den Häusern der Diakonie. Gleichzeitig gehört aber diakonisches Handeln als Dimension kirchlichen Lebens auch in jede Kirchengemeinde vor Ort. Ich kann nicht sagen, in der Kirchengemeinde geht es nur um Verkündigung. Ziel muss sein, Kirche und Diakonie wieder mehr aufeinander zu beziehen. Weil es das eine nicht ohne das andere gibt. Und gerade in den Gemeinden leben Menschen aus unterschiedlichen Milieus und mit verschiedenen Lebenswirklichkeiten. Vor Ort Gemeinschaft zu leben, die all das sieht, ist ein hoher Wert.
Welche Rolle spielen diakonische Angebote im Transformationsprozess der Kirche?
Diakonisches Handeln muss auch und gerade in Zukunft erkennbar und sichtbar sein. Dennoch wird es auch in diesem Bereich nicht ohne Einsparungen gehen. Deswegen hat die Facharbeitsgruppe, die an diesem Thema gearbeitet hat, einen so großen Akzent auf Gemeinwesendiakonie gesetzt. Wenn ich diakonisches Handeln eher regional und vernetzt denke, sind vielleicht ganz andere Beratungsangebote denkbar. Und wir werden innovativer denken müssen.
In welcher Form?
Etwa mit mobiler Beratung. Wenn der Weg zur Beratungsstelle für die Menschen zu weit ist, muss die Beratung zu den Menschen kommen. Sprechstunden in Gemeindehäusern zum Beispiel. Oder der Diakoniebus, der durch die Pfalz fährt. Dritte Idee wären digitale Angebote. Im Netz gibt es da schon einiges, und wir sind da noch nicht so gut aufgestellt, wie wir sein könnten.
Haben Sie das Gefühl, die Menschen wissen, dass Diakonie Kirche ist?
Die Marke Diakonie ist bekannt, dass Diakonie Kirche ist, deutlich weniger. Wir müssen bekannter und transparenter machen, wo die Kirchensteuer landet, wie eng aufeinander bezogen Diakonie und verfasste Kirche sind. Da ist in der Vergangenheit etwas auseinandergedriftet, was wieder näher zusammengehört. Ich habe selbst in kirchlich getragenen Kindertagesstätten erlebt, dass den Leuten nicht klar war, dass es eine kirchliche Kindertagesstätte ist. Weil sie einfach nie hinterfragt haben, wer der Träger ist. Da ist eindeutig noch Spiel nach oben.



