60 Jahre alt wird das Freiwillige Soziale Jahr 2024. 300.000 Freiwillige haben in diesem Zeitraum bei evangelischen Trägern in Berufe hereinschauen können und einen Dienst an der Gesellschaft geleistet. Eine von ihnen ist Alexandra Schulz.
Ein großer, langer Esstisch mit Holzstühlen mit angrenzender Küche, eine gemütliche Sofaecke mit einem offenen Kamin, viele Bilder an den Wänden: Aufgeräumt und einladend wirkt die Wohngruppe der Jugendhilfe Jona in Pirmasens, in der acht Mädchen zwischen 11 und 16 Jahren ein zu Hause auf Zeit finden, genauso wie in der WG für Jungen nebenan.
Erlebt hat dies auch Alexandra Schulz, wenn auch aus einer anderen Warte heraus. Die 20-Jährige aus Lemberg hat ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) in der Jugendhilfe Jona absolviert. Träger ist das Diakoniezentrum Pirmasens. Sie habe bewusst in diesen Bereich gewollt, wollte etwas „Herausforderndes“, sagt Schulz. Und herausfordernd war ihr FSJ in der Tat. Schließlich hat sie im Kinder- und Familienhaus „Benjamin“ ihre Zeit Kindern geschenkt, die dort leben, weil sie in absehbarer Zeit nicht in die Familie zurückgeführt werden können – aus den verschiedensten Gründen.
Kinder in verschiedenen Lebensphasen begleitet
Das Wissen um die Hintergründe sei teilweise nicht leicht zu verkraften, lässt Bereichsleiter Michael Gödde durchblicken. Er habe bei den zweitägigen Hospitationen auch schon Freiwillige erlebt, die gesagt hätten „das überfordert mich“, sagt er. Schulz jedoch blieb. „Ich habe ganz viel gesehen und gefühlt, das hinterlässt Eindrücke, positiv wie negativ“, sagt Schulz, die viele Kinder in ganz unterschiedlichen Lebensphasen begleiten konnte.
Wie sie mit dem, was sie gedanklich nicht loslässt, umgehen kann, hat sie unter anderem auf den fünf Seminaren gelernt, die den Freiwilligen im FSJ zustehen. Etwa, dass sie Situationen anonymisiert mit Familie und Freunde bespricht. Stück für Stück sei ihr immer mehr Verantwortung gegeben worden, sagt Schulz. Und ihr Bild von der Einrichtung und den Herausforderungen habe sich enorm geweitet. Statt einer „tristen und grauen Stimmung“ habe sie fröhliche Kinder erlebt. Und noch eine Vorstellung musste sie revidieren. „Ich dachte anfangs, die Kinder wollen nicht zurück in die Familie, weil sie es hier doch besser haben“, sagt Schulz. Doch das Gegenteil sei der Fall. „Ich konnte das anfangs gar nicht nachvollziehen“.
Aufwachsen mit „Ecken und Kanten“
Kinder, die in der Jugendhilfe wohnen, wüchsen mit „Ecken und Kanten“ in ihren Familien auf und sehen etwa Gewalterfahrungen als normal an, erklärt Gödde. „Sie durchlaufen einen Lernprozess.“ In den Regelgruppen ab zwölf Jahren differenzierten die Kinder das Verhalten der Eltern schon mehr und erkennen die Hintergründe. Kleinere Kinder verständen mitunter gar nicht, warum sie in der Gruppe untergebracht seien, fühlten sich selbst schuldig an diesem Zustand.
Dies stellt Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor eine Herausforderung. Als Vertrauenspersonen sollen sie Nähe gegenüber dem Kind zeigen. „Aber wir werden niemals Vater oder Mutter ersetzen, das wollen wir nicht, denn das wäre eine Konkurrenzsituation, was kontraproduktiv wäre“, sagt Gödde. Schließlich beginne die Rückführung des Kindes am Tag der Aufnahme.
Tränen der Kleinen tun weh
Schulz lernte sich in diesem Spannungsfeld zu bewegen, beim gemeinsamen Tischdecken, beim Betreuen der Hausaufgaben, beim Vorlesen von Gutenachtgeschichten. Mit allen Gefühlen. „Die Tränen der Kleinen können unglaublich weh tun und berühren“, sagt Gödde. „Die Herausforderung ist, wie gehe ich damit um.“ Die Praxiserfahrungen eines FSJ seien in diesem Hinblick unersetzlich. Berufseinsteiger, die ein Studium zur sozialen Arbeit absolviert hätten, fehle dieser Praxisbezug.
Bewerberzahl rückläufig
Dennoch gehe die Zahl von Bewerberinnen und Bewerbern für ein FSJ seit einigen Jahren zurück, sagt Viktoria Urschel, Bildungsreferentin im Referat Freiwilligendienste im Diakonischen Werk Pfalz. 300 Freiwillige konnten zuletzt in einem Jahr vermittelt werden. Beim Diakoniezentrum Pirmasens sind von zwölf Stellen aktuell zwei besetzt. Über die Gründe kann Urschel nur spekulieren. Laut der aktuellen Sinus-Jugendstudie sähen Jugendliche das Freiwillige Soziale Jahr als „verlorene Zeit“. Mache man das am Verdienst fest, sei das nachvollziehbar, sagt Urschel. Schließlich ist die Belohnung mit 350 Euro Taschengeld überschaubar. Seit Jahren fordern Träger hier finanzielle Unterstützung, um die Attraktivität des FSJ zu erhöhen. Denn klar sei auch: „Je weniger das FSJ absolvieren, desto weniger können sie auch anderen Jugendlichen weitergeben, warum es gut ist“.
Argumente gegen Pflichtdienst
Trotz diesen trüben Aussichten: Einen Pflichtdienst einzuführen, hält Urschel für den falschen Weg. „Ich hätte Bedenken, dass die Motivation der Bewerber bei einem Pflichtdienst nicht so hoch wäre.“ Gödde bestätigt das. „Wir müssten bei einer Verpflichtung sehr genau schauen, ob wir das vereinbaren können mit dem, was wir uns als Betreuung für die Jugendlichen oder Kinder wünschen.“ Das deckten auch seine Erfahrungen mit dem Zivildienst als einer Pflichtzeit. „Wir hatten viele gute Erfahrungen aber auch einige wenige nicht so gute.“
Schulz jedenfalls zieht ein rundum positives Fazit: „Ich würde das Jahr nicht missen wollen, bin beruflich weiter, habe meine Stärken und Schwächen kennengelernt und weiß, wie ich mit Stress umgehen kann.“ Gut vorstellen kann sie sich nun ein Studium für Soziale Arbeit. Ob sie später tatsächlich im Bereich der Jugendhilfe arbeiten will, darauf will sie sich noch nicht festlegen. Zu viele Möglichkeiten stehen ihr offen. „Geh deinen Weg“ steht auf einem Schild in einem Flur der Jona-Wohngruppen. Alexandra Schulz hat das beherzigt.