Nach Kriegsende wuchs in den protestantischen Gemeinden die Sehnsucht nach Glockengeläut. Es kam zu einer Welle der Wiederbeschaffung.

Von Uwe Rauschelbach

SPEYER. 1942, da schon alles verloren war, wurden auch die Glocken der pfälzischen Kirchen abgehängt. Die Bronzegeläute boten Material zur Produktion von Waffen und Munition. Für die Gemeinden der evangelischen Landeskirche wie der Diözese Speyer ein ungemein schmerzlicher Vorgang. Denn mit dem Verlust der Glocken verstummte, von den Nationalsozialisten so auch erwünscht, die Stimme der Kirche. Pervertiert wurde obendrein die ­sakrale Bedeutung der Glocken: Waren sie ursprünglich geschaffen worden, um zu Gebet und Besinnung zu rufen, dienten sie nunmehr dazu, die tödliche Kriegsmaschinerie am Laufen zu halten.

Mehr als 600 Bronzegeläute im Bereich der pfälzischen Landeskirche, etwa 90 Prozent, landeten auf diese Weise in den Schmelzöfen. Hinzu kamen mehr als 500 Glocken, die den Kirchen der Diözese entwendet wurden. Nur knapp 50 der insgesamt fast 1200 abgehängten Glocken gelangten nach Kriegsende wieder zurück. Insgesamt wurden in Deutschland rund 80 000 Glocken abgehängt, um sie der Produktion von Waffen und Munition zuzuführen.

Der erste Glockenbeauftragte der pfälzischen Landeskirche nach dem Krieg, Theo Fehn, berichtet in seinen Aufzeichnungen über „das große Glockensterben“ der letzten Kriegsjahre. So konstatiert er: „Kein einziges protestantisches Bronzegeläute blieb unangetastet.“ Nur sieben pfälzische Gemeinden behielten ihr komplettes Geläut, da es aus weniger wertvollen Materialien wie Gussstahl oder Eisenhartguss bestand. Verschont blieben vor allem kleinste sowie historisch bedeutsame Glocken, etwa 90 an der Zahl, darunter beispielsweise die „Liebfrauenglocke“ der Bad Bergzaberner Marktkirche aus dem Jahr 1441.

Nach dem Krieg waren die für den Glockenguss benötigten Kupfer- und Zinnvorräte erschöpft. Doch die Sehnsucht in den protestantischen Gemeinden, endlich wieder Kirchenglocken läuten zu lassen, führte zu rasanten Bestellungen von Gussstahl- und Eisenhartguss-Glocken, die freilich nicht die gleiche Klangqualität hervorbringen wie Bronzegeläute und „deren Klang heute verrät, dass damals das Warten klüger gewesen wäre“, meint Theo Fehn, der das Amt des Glockensachverständigen von 1946 bis 1984 innehatte.

Nach 1948 war allmählich wieder Bronze verfügbar, und die Glockenbeschaffung lief bis in die späten 50er-Jahre auf vollen Touren. Die Zahl der Bronzegeläute stieg dann sogar über Vorkriegsniveau. Allenthalben herrschten tiefe Freude und Dankbarkeit, dass die Kirche ihre Stimme wiedergefunden hatte. „Gott bewahre sie alle in Gnaden“, schreibt Theo Fehn über die neuen Glocken, „und gebe, dass sie vielen gläubigen Geschlechtern dienen dürfen, bis in die fernste Zukunft!“

Fehns Nachfolger Volker Müller unterstreicht die verzweifelten Bemühungen protestantischer Gemeinden, nach Kriegsende bald wieder über ein Glockengeläut zu verfügen. Geldnöte und die Knappheit an Rohstoffen konnten die Sehnsucht, die noch frischen Erinnerungen an das Sirenengeheul des Krieges durch das Friedensgeläut der Glocken zu verdrängen, nicht ersticken. 1949 habe es bereits für 35 Gemeinden wieder neue Glocken, darunter 13 Bronzegeläute, gegeben. Ende 1955 hätten 294 protestantische Gemeinden wieder komplette Geläute besessen.

Müllers Frau Birgit, die seit mehr als 20 Jahren als Glockensachverständige im Dienst der pfälzischen Landeskirche sowie des südlichen Teils der Evangelischen Kirche im Rheinland, des Bistums Speyer und des Bistums Trier steht, betreut insgesamt 5000 Kirchtürme. Darunter auch die Stiftskirche in Neustadt, in deren Kirchturm mit 14 Tonnen die größte Gussstahlglocke der Pfalz hängt. Ihre Aufmerksamkeit gilt vor allem der Sicherheit von Glockenstühlen und dem Zustand sowie dem Klang der Geläute. Birgit Müller ist die erste Frau in Deutschland, die die Prüfung zur Glockensachverständigen abgelegt hat. Sie erinnert daran, dass das Geläut als das älteste gottesdienstliche Signal gilt und ursprünglich aus dem klösterlichen Bereich stammt, wo Glocken zu den Stundengebeten läuteten.

Birgit Müller weiß sich in einer jahrhundertealten Tradition verwurzelt. Doch auch der erfahrenen Glockensachverständigen machen die aktuellen Entwicklungen zu schaffen. Dass die Kirche aus Gründen der Ersparnis Gebäude aufgeben muss, wird aus ihrer Sicht dazu führen, dass wieder Glocken verloren gehen und die Stimme der Kirche schwächer und schwächer werden wird. Ob Theo Fehns Wunsch, die Kirchenglocken mögen „bis in die fernste Zukunft“ läuten, tatsächlich in Erfüllung gehen wird, steht vor diesem Hintergrund tatsächlich infrage.

Dieser Artikel ist zuerst im Evangelischen Gemeindeblatt für die Pfalz erschienen.

Die Kirche hat ihre Stimme wiedergefunden: Glockenweihe in Obersülzen aus dem Jahr 1952. Foto: ZASP Abt. 154 Nr. 3441