Wie der Rechtsstaat und das Kirchenasyl zueinanderstehen, darüber spricht der Journalist und EKD-Synodale Arnd Henze in einem Vortrag am 11. September um 20 Uhr in einer Videokonferenz. In einem Interview vorab spricht er über kompliziertes Asylrecht, Kommunikationsstrategien von Kirche und Demokratie unter Druck.
Herr Henze, die Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl ist angesichts von Kirchenasyl-Räumungen in mehreren Bundesländern zuletzt besorgt. Ist das Kirchenasyl unter größerem Druck als früher?
Das Kirchenasyl ist von staatlichen Institutionen immer wieder in Frage gestellt worden. Der damalige Innenminister Thomas de Maizière hat das Kirchenasyl 2015 mit der Scharia verglichen. Zugleich wurden in seiner Amtszeit Vereinbarungen ausgehandelt, die das Prozedere verlässlich machen. Auf dieser Basis akzeptiert der Staat geschützte Räume. Trotzdem gab es immer wieder den Versuch einer Kriminalisierung oder – wie kürzlich in Niedersachsen – die gewaltsame Beendigung eines Kirchenasyls. In solchen Momenten muss sich der gesellschaftliche Rückhalt bewähren. In Niedersachsen hat der öffentliche Aufschrei im Anschluss dazu geführt, dass die Landesregierung sich noch einmal grundsätzlich zu diesem Schutz-Modell bekennen musste.
Olaf Scholz sprach im vergangenen Oktober davon, „im großen Stil abzuschieben“. Was bewirken solche Äußerungen hier?
Wir haben eine paradoxe Situation. Je restriktiver der Staat wird, je aggressiver Abschiebungen politisch gefordert werden, desto stärker wird natürlich auch der Druck auf das Kirchenasyl. Gleichzeitig wird dieser Schutzraum aber gerade dann noch wichtiger. Denn je mehr Druck die Ämter spüren, desto eher fallen Menschen durch das Raster, werden Fehler gemacht.
Kirchen wird vorgeworfen, sich mit dem Kirchenasyl gegen den Staat zu wenden ...
Die spannende Frage ist, wie man das Kirchenasyl begründet. Die Kirche sollte sich niemals auf ein höheres, sakrales Recht berufen. Wir dürfen uns nicht außerhalb des Rechtsstaats definieren. Übrigens: Auch bei den biblischen Vorbildern, den Asylorten, ging es nicht um etwas Sakrales, sondern um einen sehr profanen, aber für das friedliche Miteinander enorm wichtigen Schutz von Menschen, die bedroht waren.
Was bedeutet das letztlich?
Kirchenasyl ist ein herausragendes Beispiel, wie die Kirchen gelernt haben, den Rechtsstaat zu bejahen, und einen unverwechselbaren Beitrag leisten, ihn menschlicher zu gestalten. Ausgangspunkt ist die ethische Einsicht, dass auch das beste Recht zu den „vorletzten Dingen“ (Bonhoeffer) gehört und deshalb immer anfällig für Fehler bleibt. Deshalb gibt es ja den Instanzenweg, der Zeit braucht. Die Anwendung des Rechts schafft aber auch Härten, die eine menschliche Gesellschaft nicht hinnehmen kann. Gerade im Asylrecht. In einer solchen Situation tritt die Kirche nun an diesen Rechtsstaat heran und ermöglicht ihm mit dem Kirchenasyl, solche Härtefälle noch einmal sorgfältig zu prüfen. Für diese Zeit schafft sie einen Raum, in dem der Betroffene geschützt ist. Wenn der Staat das als Chance und die Kirche es als diakonische Aufgabe sieht, ist das eine Win-win-Situation.
Wird es für die Kirche mit schwindenden Mitgliederzahlen schwieriger, das Kirchenasyl zu vertreten?
Ich glaube, dass dieses Engagement für das Profil vieler Kirchengemeinden immer ein wichtiger Teil sein wird. Zugleich brauchen sie dafür die Gesprächsfäden zu den Verantwortlichen und den Rückhalt der Zivilgesellschaft am Ort. Das ist auch eine kommunikative Herausforderung. Soll das Kirchenasyl erfolgreich sein, kann man sich nicht in Fundamentalopposition stellen, sondern muss an gesichtswahrenden Lösungen mitwirken. Die Zahlen sprechen ja für sich: In den weit überwiegenden Fällen bekamen die Betroffenen am Ende einen gesetzlichen Schutzstatus.
Wird die Kirche so Teil der Politik?
Mit der Vereinbarung über das Kirchenasyl akzeptieren die Kirchen ja, sich auf besondere Härtefälle zu konzentrieren – und begeben sich damit in das Dilemma, als Teil eines Systems gesehen zu werden, das zunehmend repressiver wird. Die doppelte Herausforderung besteht darin, ein verlässliches Verhältnis mit allen handelnden Personen und Behörden zu schaffen – und sich gleichzeitig die Freiheit zu bewahren, politische Entwicklungen insgesamt zu kritisieren.
Die der protestantischen Kirche vorgeworfene Systemnähe speist sich auch aus der Geschichte …
Ja. Wir hatten in der evangelischen Kirche über Jahrhunderte hinweg ein recht fragwürdiges Verhältnis zum Recht. In der „Einheit von Thron und Altar“ ordneten sich die Christen nach Luthers Zwei-Reiche-Lehre dem Staat unter – mit einer Überhöhung des strafenden Rechts. Recht galt als Schwertamt des Staates, der sich über Härte definierte. Erst mit Gustav Heinemann und einigen anderen kam es nach den 60er-Jahren zu einer Versöhnung von Kirche und Rechtsstaat. Wir haben begriffen, dass Recht eine humane Kategorie ist; dass es um das Recht das Schwächeren gegenüber dem Stärkeren, auch gegenüber einem übermächtigen Staat geht. Es gab eine Phase, in der uns prominente Juristen wie die Verfassungsrichter Helmut Simon und Ernst Benda ermutigt haben, uns mit dem Verhältnis von Glaube und Recht zu beschäftigen. Es wäre gut, wenn wir daran anknüpfen würden, gerade mit Blick auf die Gewährleistung von Menschenwürde an Europas Grenzen. Diese Diskussion hat eine Menge Energie freigesetzt.
Kirche muss hier durch ihr Engagement bei der Rettung von Flüchtlingen Kritik aushalten. Was ist Ihre Position?
Die Argumentation muss die gleiche sein. Die Rettung von Menschen in Seenot ist eine unverhandelbare Pflicht des Völkerrechts und des Seerechts. Das Engagement von privaten Rettungsschiffen ist nur nötig, weil die EU und ihre Mitgliedsstaaten dieses Recht in grober Weise missachten – indem sie nichts unternehmen oder die Rettung an inhumane Kräfte wie die libysche Küstenwache outsourcen. Wir schützen also Recht, indem wir mit vielen Partnern helfen, dass wir nicht hinter etwas zivilisatorisch bereits Erreichtes zurückfallen.
Sind denn die Asylgesetze in der EU noch klar zu vermitteln?
Die Architektur der Flüchtlingspolitik ist enorm komplex und wird nicht einfacher durch das neue Asyl- und Migrationspaket der EU. Ich denke, wir müssen den humanitären Anspruch der EU und des Grundgesetzes immer wieder in Erinnerung halten und gegenüber den populistischen Vereinfachern verteidigen. Asylrecht ist ein Individualrecht, jeder Fall hat Anspruch, geprüft zu werden.
Die Ampelparteien und die Union wollen das Bundesverfassungsgericht vor politischer Einflussnahme schützen. Ist der Rechtsstaat so gefährdet?
Der Blick in die USA, nach Polen, Ungarn oder Israel zeigt, dass die Feinde der Demokratie vor allem die Unabhängigkeit der Justiz und die Pressefreiheit angreifen. Denn das sind die zentralen Elemente einer gelingenden Demokratie. Deshalb müssen wir auch in Deutschland dafür sorgen, dass diese resilient bleiben. Da sollten wir auch als evangelische Kirche genauer hinsehen.
Und was kann der Staat tun?
Wenn man die Resilienz der Demokratie stärken will, muss man ans Kleingedruckte gehen: Wie schnell können Verfahren geändert werden, wie schnell können Behördenchefs ausgetauscht werden? Viele Abläufe stammen immer noch aus einer Zeit, in der es einen politischen und gesellschaftlichen Grundkonsens gab. Aber nun gibt es antidemokratische Kräfte, die diesen nicht mittragen.
Migration ist Schwerpunktthema der EKD-Synodaltagung im November. Was erhoffen Sie sich?
Dass wir als Kirche in einem immer repressiveren Klima, was Flüchtlinge betrifft, eine Stimme sind, die gehört wird. Dazu gehört, dass es für die Akzeptanz von Flüchtlingsschutz und Migration wichtig ist, die realen Probleme bei der Aufnahme und Integration ernst zu nehmen. Im Kern geht es aber darum, die wesentlichen Inhalte einer humanen Flüchtlingspolitik zu verteidigen. Die Seenotrettung ist ein Beispiel, wie wir einen Gegen-akzent setzen können.
Das Gespräch führte Florian Riesterer.