Gedanken zum 9. November
Eine Andacht von Kirchenpräsidentin Dorothee Wüst anlässlich des Gedenkens an die Reichspogromnacht vor 85 Jahren.
Speyer (lk). Zum ersten Mal in Israel. Vor vielen Jahren. Untergebracht in einem Kibbuz. Ein alter Mann führt uns durch die Anlage. Als er auf Gebäude zeigt, rutscht der Ärmel hoch. Niemand schaut auf die Gebäude, alle schauen auf seinen Unterarm. Auf die Nummer. Er hat Auschwitz überlebt. "Endlich bin ich zu Hause, Israel ist meine Heimat. Jetzt bin ich in Sicherheit." Sagt er.
Voriges Jahr Besuch in der Synagoge in Speyer. Herzliches Gespräch mit der Geschäftsführerin der jüdischen Kultusgemeinde Rheinpfalz. Wir erinnern uns an fröhliche Chanukka-Feiern, wo ich Gast sein durfte. Am Ende des Gesprächs erzählt sie von der Angst. Bei jedem, der zur Synagoge gehört. Von Anspucken in öffentlichen Verkehrsmitteln, von Pöbeleien in Supermärkten. "Wir fühlen uns nicht sicher. In diesem Land. Keiner von uns." Sagt sie.
Letzte Woche am Synagogenplatz in Kaiserslautern. Ein kleiner Park mit rekonstruierten Mauerresten. Zur Erinnerung an den Holocaust und all die Toten. Eine Familie steht an einem der sieben Sichtgeräte, durch die man ein virtuelles Bild von der prächtigen Synagoge bekommt, die einst hier stand. Bevor sie im Sommer 1938 in vorauseilendem Gehorsam gesprengt wurde. "Nie wieder." Sagen wir jedes Jahr am 27. Januar und am 9. November an dieser Stelle. "Nie wieder Antisemitismus. In unserem Land muss sich jeder sicher fühlen dürfen." Sagen wir.
Viele sagen viel in diesen Tagen. In denen wieder die Angst umgeht. Gerade in Israel. Der brutale Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober hat alle Träume vom sicheren Leben im eigenen Land zerplatzen lassen. Ohne Ende sehe ich Gesichter junger Menschen in den sozialen Medien, deren Tanz in der Wüste mit dem Tod endete. Möge die Erde dir leicht sein, steht dabei. Wir werden dich nicht vergessen. Zu all den Worten dieser Tage gehören immer ihre Namen, ihre Gesichter, ihre Zukunft, die nicht mehr sein wird. Weil der Hass sie ausradiert hat. Unerträglich.
Unerträglich das sprunghafte Ansteigen antisemitischer Übergriffe bei uns und weltweit seit dem 7. Oktober. Wenn wir heute an die Reichspogromnacht vor 85 Jahren denken, geht das "Nie wieder" gar nicht leicht von der Zunge. Längst ist auch unsere Gesellschaft wieder in einem Spagat, der uns zu zerreißen droht. Eine Zerreißprobe für Demokratie, für Humanität, für Toleranz, für Mitmenschlichkeit, für Sicherheit, für Frieden. Offenbar auch für Mitgefühl. Für die Fähigkeit, sich in die Situation anderer zu versetzen. Wenigstens für einen Moment begreifen zu wollen, dass es in all dem um Menschen geht. Wie ich einer bin. Wie meine Kinder welche sind. Welche Welt will ich für meine Kinder?
Ich will eine Welt, in der Kinder ohne Angst tanzen können. In der Luftschutzbunker keine Rolle spielen. In der ich mit Kippa oder Kopftuch sicher einkaufen kann. In der niemand "Tod allen Juden" plärrt. In der Schulen keinen Stacheldraht und Polizeischutz brauchen. In der sich jeder sicher fühlen darf. In der "Nie wieder" kein frommer Wunsch, sondern Realität ist. In der wir endlich begreifen, dass Religion nicht Nährboden für Hass ist, sondern für Liebe. Dafür stehen wir als Christinnen und Christen. Und das sind die Worte, die wir sagen. Sagen müssen. Immer wieder. Unermüdlich. Unverdrossen. Unverzagt. In das Unerträgliche der Welt hinein.
Deshalb gilt heute mein Gebet all meinen Menschen-Geschwistern, die darben, Not leiden, Trauer tragen, Angst haben, den Mut verlieren, am Hass verzagen.
Und für mich und viele andere bete ich zu Gott, dass er mein Herz nicht verschließt, mein Mitgefühl stärkt und mich die Liebe lehrt. Diese Macht möge mit mir, mit uns allen sein. Und keine andere. Amen.
Hintergrund
Die sogenannte Reichspogromnacht fand in Deutschland in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 statt. In dieser Nacht begannen im nationalsozialistischen Deutschland direkte und gezielte Gewaltaktionen gegen die jüdische Bevölkerung. Sie waren der Beginn der systematischen Verfolgung und Vernichtung des europäischen Judentums, der Anfang des Holocaust. Jüdische Geschäfte wurden geplündert und zerstört, Synagogen niedergebrannt. Die Polizei griff nicht ein, nur wenige Menschen trauten sich, ihren jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern zu helfen. Mehr als tausend Jüdinnen und Juden starben in dieser Nacht. 30.000 Menschen wurden verhaftet und verschleppt.