Interview mit dem pfälzischen Friedensbeauftragten Gregor Rehm 

Dann sind wir im Krieg

(v. l. n. r. Gregor Rehm, Friedrich Kramer, Brigadegeneral Arturas Radvilas, Generalmajor Ruprecht von Buthler). Foto: Litauische Streifkräfte

Gregor Rehm, Friedensbeauftragter der pfälzischen Landeskirche, hat den EKD-Friedensbeauftragten Friedrich Kramer vier Tage lang auf dessen Reise zu den Nato-Verbänden in Litauen begleitet. Im Interview spricht er über die Wahrnehmung der Bedrohung durch Russland in Litauen, Chancen für den Frieden und welche Rolle Kirche im Kontakt zwischen Militär und Zivilbevölkerung in Deutschland spielen könnte. 

 

Herr Rehm, bis 2027 will Deutschland in Litauen eine schwere Kampfbrigade aufbauen. Erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg sind dann deutsche Soldaten dauerhaft außerhalb Deutschlands stationiert. Bereits jetzt ist eine internationale NATO-Battlegroup unter deutscher Führung vor Ort. Wie nehmen die Soldaten diesen Einsatz wahr?

Die SoldatInnen sind sich bewusst, dass sie ein Abschreckungsszenario darstellen sollen gegen Russland. Die grundlegende Logik des Einsatzes ist: „Wir sind hier, damit es nie so weit kommt, dass wir in den Einsatz müssen.“ 

Fühlen sich die Soldaten denn sicher vor Ort?

Ich meine Ja. Das liegt auch daran, dass es für einige nicht der erste Einsatz ist. Manche waren in Mali oder Afghanistan. Jetzt sind sie in einem europäischen Land und können sich frei bewegen außerhalb der Kaserne. 

Aber eine Bedrohung durch Russland ist trotzdem Thema?

Natürlich. Die Frage nach Ausrüstung ist deshalb ein Riesenthema. Anders als in deutschen Kasernen sind die Soldaten in Litauen allerdings voll ausgestattet. 

Wie blickt die litauische Bevölkerung auf Russland?

Es gibt aktuell kein realistisches Szenario, dass Russland übermorgen Litauen angreift; aber in der litauischen Bevölkerung gibt es solche Befürchtungen. Sogar das litauische Verteidigungsministerium versucht hier zu deeskalieren. Die Nato wird als Lebensversicherung empfunden. Am Präsidentenpalast in Litauen weht die Nato-Fahne. Vor dem Verteidigungsministerium der Schriftzug „Wir sind Nato“. 

Dieses Bekenntnis verdeutlicht auch die Angst…

Ja. Das liegt daran, dass es in der litauischen Geschichtslesung andere Traumata gibt. In Deutschland würden wir zuerst die Weltkriege und den Holocaust nennen, dann vielleicht die innerdeutsche Teilung. In Litauen ist das Kerntrauma die sowjetische Besatzung. Wir haben gehört, dass das Eintreffen der Wehrmacht erst einmal nicht als Besatzung empfunden wurde, sondern als Befreiung von den Sowjets. Diese Sichtweise wahrzunehmen hilft mir auch, die Situation in der Ukraine besser zu verstehen, die ja ebenfalls Sowjetrepublik war. 

Was bedeutet die Präsenz von Bundeswehrsoldaten in Litauen für Deutschland?

Artikel 5 des Vertrags über die NATO, die Beistandspflicht, kann ja sehr offen ausgelegt werden – von der Solidaritätsbekundungen bis zum Start der nächsten Fliegerstaffel. Da gibt es viel politischen Spielraum. Durch die dauerhafte Stationierung wird eine Realität geschaffen, hinter die man nicht mehr zurückkann. Das muss uns ganz klar sein. Wenn Litauen angegriffen werden sollte und es ist eine deutsche Panzerbrigade vor Ort, dann wird sie sich unabhängig von Parlamentsbeschlüssen in Deutschland erst einmal selbst verteidigen. Und dann sind wir im Krieg.  

Sie sind als Friedensbeauftragter in Litauen auf eine Militärmaschinerie getroffen. Was nehmen Sie mit?

Als Kriegsdienstverweigerer habe ich das als eine völlig fremde Welt wahrgenommen. Aber es ist eine Welt mit einer inhärenten Logik, die dem alten Modus folgt: Wer den Frieden will, bereitet den Krieg vor. Das macht in sich geschlossen auch erstmal Sinn. Die Tatsache, Teil des Verteidigungsapparats zu sein, verändert allerdings auch die Wahrnehmung von Menschen. Deshalb finde ich es unheimlich wichtig, dass es Kontakt gibt zwischen Militär und friedensbewegter Zivilbevölkerung. Die Militärvertreter vor Ort haben sich nicht weniger stark für unsere Haltung interessiert. Es ist wichtig die eigenen Bubble's zu verlassen; das wurde auch in Gesprächen mit dem Psychosozialen Netzwerk der Bundeswehr deutlich. 

Weshalb?

Eine Feststellung nach Afghanistan war, dass Soldaten mit den Erfahrungen, die sie im Krieg dort gemacht haben, nur mit Leuten sprechen können, die diese Erfahrungen teilen. Das führt zu einer Abschottung und der Frage: Wie kann die deutsche Parlamentsarmee, trotz Einsatzerfahrung, Teil der Gesellschaft bleiben? 

Wie kann das konkret aussehen?

Es kann nicht um mehr öffentliche Präsenz des Militärs gehen. Zu zeigen, welches beeindruckende Militärgerät es gibt, das hat ja leicht etwas Verharmlosendes. Es muss auch etwas anderes sein als die Einführung eines Veteranentags, bei der nur zu pauschale Geschichten erzählt werden können, die nicht dazu geeignet sind, ein Verständnis herzustellen und Cluster aufzubrechen. Wichtig wäre, ernst zu nehmen, was im Einsatz passiert, was das für die Soldaten bedeutet. 

Welche Aufgabe hätte dabei die Kirche?

Wir sind als evangelische Kirche keine historische Friedenskirche, die sich dem Pazifismus verpflichtet hat. In der evangelischen Kirche ist für verschiedene Haltungen Platz und darin liegt gerade eine Chance. Die Frage ist, wie können wir Begegnungsräume schaffen? Welche Rolle spielen zum Beispiel Kirchengemeinden an Bundeswehrstandorten? Unser Konzept einer spezialisierten Militärseelsorge kann da schon separierend wirken. Dann ist alles, was Soldat ist, raus aus dem Kontext Ortsgemeinde. 

Wo liegen denn die Herausforderungen der Friedensarbeit? Was nehmen sie in diesem Punkt mit von Ihrer Reise?

Die große Frage, die ich mitnehme ist: Was tue ich,  wenn ich nicht stehen blieben will bei der Logik „Wer den Frieden will bereitet den Krieg vor?“ Was tue ich, wenn ich da weitergehen möchte ­ - in Richtung eines gerechten Friedens – was bedeutet das dann? Wie können wir den Frieden vorbereiten? Wie können jetzt Schritte der Entfeindung aussehen? Was ist wirklich möglich an Diplomatie?  

Hätte man schon im Vorfeld des Kriegs besser auf russische Sicherheitsinteressen Rücksicht nehmen müssen?

Ich habe das immer gesagt. Aber da hat dieser Besuch etwas bei mir geändert. Wir haben Vertreter der belarussischen Menschenrechtsorganisation „Nasch Dom“ (Unser Haus) getroffen, die in Belarus die Demokratiebewegung stark geprägt hat, wir haben Deserteure der belarussischen Armee getroffen und Vertreter von „Memorial“, einer russischen Menschenrechtsorganisation. Alle waren sich einig: Putin wird keine Grenzen anerkennen; er wird die ganze Ukraine nehmen und danach auch nicht vor den Nato-Grenzen halt machen, weil er ein russisches Großreich will. Er zeigt seit zwei Jahren, dass ihm egal ist, wieviel Menschen er als Kanonenfutter verheizt und führt einen Angriff wie im Ersten Weltkrieg. Dass man vor dem Krieg, bei der Münchener Sicherheitskonferenz 2007 oder 1999/2004 bei der Nato-Osterweiterung russische Interessen ernster hätte nehmen müssen, ist vielleicht vom Ansatz her viel zu spät. 

Weshalb?

Vielleicht muss man zurückgehen bis zur Zeit des Zwei-plus-Vier-Vertrags und die Nato hätte sich Anfang der 90er auflösen müssen, so wie der Warschauer Pakt. Vielleicht hätte das ein Ungleichgewicht verhindert. Unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist da eine große Chance verpasst worden. Und vielleicht ist das eine Lehre, die man in die Zukunft mitnehmen kann: Dass ein Ungleichgewicht nach Ausgleich sucht. 

Autor: Florian Riesterer