Andacht von Kirchenpräsidentin Dorothee Wüst zum Fest Christi Himmelfahrt

Ihr Männer von Galiläa, was steht ihr da und seht zum Himmel? 

Andacht zum Fest Christi Himmelfahrt

 

Die wenigsten Menschen konnten früher lesen und schreiben. Dennoch wollten und sollten sie etwas wissen und begreifen über den christlichen Glauben. Wenn Buchstaben nicht helfen, sind Bilder wichtig. Wie zum Beispiel dieses. Es stammt aus dem Jahr 1555 und ist zu sehen auf dem Baldramsdorfer Fastentuch in Kärnten. Die Meilensteine unserer Heilsgeschichte In 39 Bildfeldern. Wie zum Beispiel die Himmelfahrt Christi, die wir in dieser Woche feiern.

Ich kann lesen und schreiben. Und dennoch gefällt mir dieses Bild. Es ist so anschaulich. Ich sehe den Berg, auf den die Jünger mit Jesus gehen. Sogar die Fußstapfen sind zu sehen, die sie hinterlassen. Ich sehe die Jünger, die allesamt zum Himmel schauen und ziemlich traurige Gesichter haben. Ich sehe unter den Jüngern eine Frau, was ziemlich erstaunlich ist. Und natürlich sehe ich unseren Herrn und Heiland in einem Wölkchenkranz geradewegs und ziemlich senkrecht die Erde verlassen. Seine Füße sieht man noch, der Rest ist bereits verschwunden.

Das Bild hat etwas Kindliches. So stellen sich Kinder die Szene vor, die in der Apostelgeschichte beschrieben ist. Und deshalb tun sich auch viele Erwachsene unseres aufgeklärten Zeitalters schwer mit diesem Kirchenfest. Das aber so wichtig ist für die Erzählung zwischen Ostern und Pfingsten. Weil nach der Auferstehung für Jesus diese Erde keine Heimat mehr ist, sondern nur eine Zwischenstation. Es muss weitergehen. Er muss weiterziehen. Auch wenn das zu diesem Zeitpunkt keiner will.

Schauen Sie sich die Jünger an. Da lächelt keiner. Die machen abwehrende Handbewegungen. Vielleicht vor Erschrecken. Kommt ja nicht alle Tage vor, dass einer in die Wolken verschwindet. Vielleicht aber auch, weil sie es nicht noch einmal aushalten wollen, sich verabschieden zu müssen. Für alle auf diesem Berg waren die letzten Wochen eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Tod am Karfreitag, Leben am Ostersonntag, neue Gemeinschaft in den letzten Tagen. Und nun schon wieder Abschied. Angst, Trauer, Freude, Hoffnung. Alles in rascher Folge. Das überfordert den stärksten Jünger.

Und die sind ja noch nicht einmal besonders stark. Die Bibel macht kein Hehl daraus, dass es Menschen sind wie Sie und ich. Eben keine Glaubenshelden, an denen alles abperlt, was der normalen Seele die Luft abschnürt. An die gehen genau dieselben Gefühle dran wie an uns auch. Angst, Trauer, Freude, Hoffnung. Manchmal in rascher Folge. So dass der Seele die Luft ausgeht. Und dann stehen, sitzen, liegen wir da und starren an den Himmel, wie es die Jünger tun. In dieser Momentaufnahme eines unbekannten Künstlers, die wie ein eingefrorenes Bild wirkt. Mitten in der Bewegung aufgenommen. Weil etwas passiert, das jede Bewegung im Keim erstickt.

Wäre das Bild ein Film, würde Jesus immer weiter entschwinden. Mitsamt seinem Wölkchenkranz. Aber die Jünger würden noch immer stehen und starren. Ratlos, hilflos. Sauer, zornig. Frustriert, resigniert. Und völlig unfähig, den nächsten Schritt zu tun. Wie das bei Menschen ist, wenn sie verlieren, was ihnen wirklich wichtig ist. Das kann der Tod sein. Da ist es mit Händen zu greifen. Aber das Leben bietet noch mehr Situationen, die Menschen erstarren lassen. Wenn der Arbeitsplatz weg ist. Wenn Kinder ausziehen. Wenn Ehen zerbrechen.

In diesen Corona-Zeiten ist das Leben insgesamt so bewegungsarm geworden. Home-Office, Ausgangssperre, reduzierte Kontakte, geschlossene Geschäfte. Für viele von uns fühlt sich Leben schaumgebremst an, irgendwie in Zeitlupe. Aber diese Zeitlupe ist noch einmal etwas ganz anderes als das Gefühl, wenn die Zeit stehen bleibt. Und das erleben die Jünger an jenem Himmelfahrtstag in Jerusalem. Die Zeit bleibt stehen. Sie bleiben stehen. Und starren.

Und das würden sie womöglich noch immer tun, wenn nicht wie aus dem Nichts zwei Männer in weißen Gewändern auftauchen würden, die wie so oft in der Bibel Erlösung im wahrsten Sinne des Wortes bringen. In ihren Worten löst sich die Starre. Und es sind keine staatstragenden Worte, sondern ziemlich pragmatische: „Was steht ihr da und seht gen Himmel?“

Ganz klar eine rhetorische Frage. Weil ja offensichtlich ist, warum die dastehen und gen Himmel sehen. Ihr Freund, ihr Meister, ihr Anfang und Ende, ihre Sonne und ihr Mond ist weg. Hat sich Richtung Himmel aufgemacht und sie nicht mitgenommen. Wo würden Sie hinsehen? Wo sehe ich hin, wenn das, was mir lieb und teuer ist, nicht mehr da ist? Wo gehe ich hin, wenn ich verliere, was mein Leben wertvoll macht? Ich schaue auf den Verlust und gehe gar nirgends hin. Weil ich zurückhaben will, was mir genommen wurde.

Ihr werdet nicht zurückbekommen, was ihr verloren habt. Sagen die Männer in weißen Gewändern. Jedenfalls nicht so. Erst einmal ist er weg. Er wird wiederkommen. Aber ihr bleibt erst einmal, wo ihr seid. Auf der Erde. In diesem Leben. Macht was draus. Und – so erzählt es die Bibel – sie machen etwas daraus. Sie gehen zurück nach Jerusalem und dann kommt Pfingsten und dann kommt der ganze Rest der 2000jährigen Geschichte. So einfach?

Natürlich nicht. Nach dem Himmelfahrts-Standbild kommt hurtig der Pfingstzeitraffer? Schön wär’s. Die Bibel folgt da ihrer eigenen Dramaturgie. Und dennoch ist diese Himmelfahrtsszene eine Schlüsselszene. Sie erschließt Gefühle. An diesem Fest sind Gefühle wirklich wichtig. Sich verlassen fühlen, hilflos sein, keinen Weg mehr sehen. Himmelfahrt ist kein abgehobenes Fest, auch wenn einer abhebt. Die anderen bleiben auf der Erde, die urplötzlich keine Heimat mehr ist und es erst wieder werden muss.

Und das kriegt man nicht immer allein hin. Manchmal braucht es Männer in weißen Gewändern, die rhetorische Fragen stellen. Menschen in welchen Gewändern auch immer, die mit einer Frage oder einem Wort oder einer Stille die Starre durchbrechen und die Uhr wieder in Bewegung setzen. Die Jünger starren nicht mehr an den Himmel, sie starren auf Männer in weißen Gewändern. Und dann setzen sie sich in Bewegung. Erlaufen Schritt für Schritt, Stück für Stück wieder das Leben. Weg vom Berg. Weg vom Wölkchenkranz. Weg vom Auferstandenen und zum Himmel Gefahrenen.

Der sie ja nicht wirklich im Stich lässt. Gott geht weg, Gott kommt wieder, Gott bleibt da. Als Geist. Als Gefühl und Gewissheit, dass wir nicht allein durch die Zeiten müssen. Und wir schaffen das. Die haben es ja auch geschafft. Ohne dass Jesus sie ans Händchen genommen hat. Muss er nicht mehr. Weil er sie das Laufen gelehrt hat. Weil er uns das Laufen gelehrt hat. Über Berge und durch Täler. Zu den Menschen auf der Erde. Mit Rückenwind vom Himmel.

Ihr Männer von Galiläa, was steht ihr da und seht zum Himmel? Ihr Frauen und Männer, Junge und Alte, Reiche und Arme, Trauernde und Ängstliche, Durchdachte und Planlose, Sehnsüchtige und Frustrierte, Gelähmte und Erstarrte, Zukunft-Wollende und Vergangenheit-Verklärende: Was steht ihr da und seht zum Himmel? Seht auf die Erde. Dort ist der Himmel. Macht was draus. Ihr könnt es doch. Gott weiß, was. Gott weiß, dass. Gott helfe uns. Amen.