Blog aus Odessa: Berührender Besuch bei ehemaliger Zwangsarbeiterin 

Die Geschichte von Jewdokija Finogeewa

Bloggen aus Odessa: Paul Mönch und Sonja Lenhart. Foto: privat

Kaiserslautern/Odessa (lk). Seit über zwanzig Jahren leistet die protestantische Friedenskirchengemeinde Kaiserslautern gemeinsam mit dem „Arbeitskreis Ukraine – Pfalz“ humanitäre Hilfe in Odessa. Vom 8. bis 15. Oktober hält sich eine 15-köpfige Reisegruppe in der Region am Schwarzen Meer auf. Mit dabei sind Sonja Lenhart und Paul Mönch, Schüler am Kaiserslauterer Hohenstaufen-Gymnasium. Sie beschreiben in einem eigenen Blog mit dem Titel „we experience odessa – Eine Reise, die wir womöglich nie vergessen werden“ und auf der Homepage der Landeskirche ihre Eindrücke, um ihre Mitschüler, aber auch alle interessierten Leser an ihren Erfahrungen teilhaben zu lassen.

„Wir haben Jewdokija Finogeewa, eine im Zweiten Weltkrieg nach Deutschland verschleppte Zwangsarbeiterin, besucht. Anna pflegt schon sehr lange den Kontakt mit ihr und auch Carsten und Christian durften sie bereits letztes Jahr einmal besuchen. Da sie mit ihrer Familie in einem sehr kleinen Haus lebt, konnte nicht die ganze Gruppe mitkommen. Empfangen wurden wir von Jewdokijas Tochter und Enkel, auf dem Tisch stand frisch zubereitetes Essen. In dem Haus wohnt die ganze Familie. Wir waren überrascht, dass sie, obwohl sie offensichtlich wenig besitzt, uns solch eine Mahlzeit bereitete. Sie hatten außerdem eine riesige Torte extra für uns backen lassen. Die alte Dame fing an, zu erzählen.

1941, mit 13 Jahren, wurde sie mit anderen Mädchen und Jungen von deutschen Soldaten aus ihrem Dorf verschleppt, um sie als Zwangsarbeiter nach Deutschland zu bringen. Etwa eine Woche waren sie mit dem Zug unterwegs: kein Platz zum Sitzen, kein Platz zum Liegen und zu große Angst, um zu schlafen. In Deutschland angekommen, wurden alle in verschiedene Städte aufgeteilt; Jewdokija kam nach Kaiserslautern. Sie musste in einem Gusswerk schwere körperliche Arbeit verrichten. Ihre Aufgabe war es, Rohre zu schrubben, Maschinen zu säubern und Material für die Kanonenproduktion zu tragen. Sie erinnert sich, dass sie schon vor Sonnenaufgang anfingen zu arbeiten und erst nach Sonnenuntergang aufhören durften. Sie hatten nur wenig Pausen und bekamen nicht viel zu essen. Kein Brot. Sie erinnerte sich an wässrige Suppe mit etwas Spinat.

Jewdokija erzählte uns, dass sie einmal nach einer Mittagspause von einem Aufseher gefragt wurde, ob sie genug zu essen habe und was sie bekämen. Als sie sagte, dass sie immer Spinat bekämen, meinte er, dass Spinat sehr gesund sei. Am nächsten Tag brachte sie Hans, so war sein Name, eine kleine Schüssel mit und er probierte. Es schmeckte ihm nicht und er sagte, dass das kein richtiger Spinat sei. Hans gab ihr eine dünne Scheibe Brot. Endlich hatte sie wieder etwas Richtiges zu essen. Von diesem Tag an brachte er ihr jeden Tag etwas Brot. Sie musste aufpassen, dass sie niemand sah, weil es verboten war, dass Deutsche die Arbeiter unterstützten. Deshalb aß sie immer versteckt hinter den Maschinen. Jewdokija ist Hans unendlich dankbar für das tägliche Brot. Sie erzählte uns, dass sie ohne dieses in der Kriegszeit nicht überlebt hatte; solchen Hunger litt sie.

Kurz vor Ende des Krieges wurde Jewdokija befreit und machte sich mit einigen ihrer Freunde auf den langen Weg nach Hause. Sie hängten sich an Züge und Autos; liefen unglaublich lange Strecken zu Fuß. Angst, wieder eingefangen zu werden, verfolgte sie. Jewdokija erzählte uns von einer Nacht auf der Flucht: Sie waren im Wald. Die Bomben flogen. Vor ihren Augen explodierte eine Bombe direkt neben einer ihrer Freundinnen. Nach ungefähr einem Monat kam sie in ihrem Heimatdorf an. Ihre Mutter musste sie verstecken, da überlebende Zwangsarbeiter in Straflager geschickt wurden.Sie ging nach Odessa, um Arbeit zu finden und nicht mehr Gefahr zu laufen, erkannt zu werden. Jewdokija ging hier vielen Jobs nach, um genug Geld zu verdienen.

Aber auch in Odessa war es nicht besser als in Deutschland. Es gab nicht genug zu essen. Jedem wurde täglich eine bestimmte Menge Brot zur Verfügung gestellt. Ihr Mann musste nachts die Apfelbäume und Felder bewachen, damit die Früchte und das Gemüse nicht geklaut werden wurden. In den 1990ern reiste Jewdokija noch einmal nach Deutschland. Sie suchte nach Hans, dem Mann, der ihr das Brot gegeben hatte. Seine Familie fand sie, jedoch war Hans zu diesem Zeitpunkt schon seit zwei Jahren verstorben. Allerdings konnte sie sich noch mit seiner Tochter unterhalten.

Nach ungefähr zwei Stunden mussten wir leider gehen, weil es schon spät am Abend war. Wir übergaben auch hier Spenden der Initiative „Sozialer Tag“. Jewdokija hörte gar nicht mehr auf sich zu bedanken, und sie bat uns, das nächste Mal doch früher zu kommen, um mehr Zeit zu haben. An Jewdokija sehen wir, dass das Leben nach dem Krieg nicht einfach zu Ende geht; seit einigen Jahren hat sie Urenkel. Die Welt dreht sich weiter und damit auch das Leben. Die Uhr kann nicht angehalten werden. Erst vor kurzem war Jewdokija sehr krank, und trotzdem durften wir sie besuchen; die ganze Familie hat sich so viel Mühe um uns gemacht.

Wir können uns nicht vorstellen, dass jemand so viel durchgemacht hat. Durch unseren ständigen Wohlstand in Deutschland werden wir das nie richtig verstehen können, aber wir haben einmal mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Ohren gehört, dass es auch traurige Geschichten, wie Jewdokijas, gibt. Uns schockiert die Tatsache, dass sie gesehen hat, wie Menschen durch Bomben getötet wurden. Und trotzdem ist sie so stark, sie hat uns alles erzählt und alle unsere Fragen beantwortet. Uns beeindruckte das sehr, weil wir nicht wissen, ob wir das gekonnt hätten.“

Etwa einen Tag nach diesem Besuch habe die Gruppe die Nachricht erhalten, dass Jewdokija Finogeewa gestorben sei, teilt die Kaiserslauterer Dekanin Dorothee Wüst, die an der Reise teilnimmt, mit. Jewdokija wurde 88 Jahre alt.  „Es ist, als habe sie noch auf unseren Besuch gewartet, sie hat sich auch so überaus gefreut! Wir sind nun alle recht bedrückt.“